Die Schweiz bildet sich wegen Corona eifrig weiter
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Positiver Pandemie-Effekt
Die Schweiz bildet sich wegen Corona eifrig weiter

Corona verpasst der Wirtschaft einen Schock. Jetzt reagieren die Büezer: Weiterbildungen erreichen Rekordzahlen. Der Trend erfasst alle Branchen.
Publiziert: 14.02.2021 um 09:39 Uhr
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Die Schweizer Wirtschaft ist 2020 um 3,5 Prozent geschrumpft. Die Arbeitslosenquote stieg auf 3,7 Prozent.
Foto: imago images/Chris Emil Janßen
Danny Schlumpf

Die Schweizer Wirtschaft ist 2020 um 3,5 Prozent geschrumpft. Die Arbeitslosenquote stieg auf 3,7 Prozent. Besonders hart traf dieser Schock die Temporärarbeiter. Ihre Branche brach 2020 um 14 Prozent ein. Kein Wunder: Temporäre arbeiten in allen Berufen – vom Hilfs- arbeiter auf dem Bau bis zur hochspezialisierten Biomedizinerin. Sie sind die Kräfte an der Front, ein Spiegel der Gesamtwirtschaft. Umso interessanter ist ihre Reak­tion auf die Corona-Krise: Sie bilden sich weiter.

Das zeigen neue Zahlen von Swissstaffing. Der Verband der Personalverleiher führt zusammen mit den Gewerkschaften den Weiterbildungsfonds Temptraining. Dieser ermöglicht Temporärarbeitern ­Zuschüsse bis zu 5000 Franken für Weiterbildungen. Und die Flexworker nutzen ihn wie nie zuvor: Im Jahr 2020 erreichten die Ge­suche Rekordwerte. Bis im Herbst stiegen sie um 45 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Insgesamt 14 Millionen Franken hat der Fonds im letzten Jahr ausbezahlt. «Die Zahlen zeigen, dass sich der Trend über alle Branchen hinweg erstreckt», sagt Myra Fischer-Rosinger (40), Direktorin von Swissstaffing.

Sandro Deller (31) wollte schon seit Jahren eine Weiterbildung machen. Der Strassenbauer aus Zumikon ZH arbeitet temporär, weil er über die Wintermonate auf Reisen geht. Doch dieses Jahr fielen seine Pläne wegen Corona ins Wasser. Für Deller war klar: «Jetzt oder nie!» Mit ­einem Zuschuss aus dem Fonds absolvierte er im Januar die Bagger-Prüfung. «So mache ich etwas Po­sitives aus der Krise», sagt Deller: «Ich steigere meinen Wert am ­Arbeitsmarkt.»

Über 1000 Kurse

Der Temptraining-Fonds bietet über 1000 Kurse an Bildungs­instituten im ganzen Land an. Sie spiegeln die Vielfalt der Flexworker-Branche: Ein Fünftel aller Weiterbildungen im letzten Jahr waren Sprachkurse, denselben Anteil machten Ausbildungen im Bereich Arbeitssicherheit aus. Jeder Zehnte besuchte eine Schulung für das Baugewerbe. 14 Prozent der Temporären bildeten sich im Bereich Verkehr und Logistik weiter – zum Beispiel zum Gabel­staplerfahrer. Für Sébastien Baum (45) wurde die Beherrschung dieses Geräts zum Sprungbrett für ­eine Festanstellung.

Der Franzose arbeitete über 20 Jahre für eine Firma in Colmar (F). Dann wurde dem Familien­vater gekündigt. Eineinhalb Jahre lang hielt er sich anschliessend als Temporärer im Raum Basel über Wasser. Anfang 2020 heuerte Baum beim Verpackungsunternehmen Müller Packaging in Münchenstein BL an. «Wir nutzen die Temporärarbeit, um herauszufinden, ob eine Festanstellung für beide Seiten Sinn macht», sagt Müller-CEO Christian Reinau (53).

Bei Sébastien Baum war das der Fall. Bloss brauchte er dafür die ­Befähigung zum Gabelstaplerfahrer. «Durch das Angebot von Swiss­staffing konnten wir diese Lücke schliessen», sagt CEO Reinau. Baum nutzte die Chance. Seit letztem Sommer ist er bei der Firma fest angestellt. Das Thema Bildung ist für ihn aber nicht abgeschlossen. «Ich lerne ­jeden Tag dazu», sagt Baum.

Viele bangen um ihre Jobs

Der Trend zur Weiterbildung gehe über den Temporärbereich hinaus, sagt Korab Macula (39) vom Arbeitnehmerverband Angestellte Schweiz. «Wir beobachten diesen Schub in allen Branchen.» Die Pandemie habe die Angestellten aufgerüttelt. «Viele haben ihre Jobs verloren, andere bangen da­rum», sagt Macula. «Sie haben realisiert, dass sie das Heft in die Hand nehmen müssen.» Der Verband hat für seine Mitglieder den CV-Booster eingeführt. Die Standortbestimmung zeigt ihnen sinnvolle Weiterbildungen an. «Sie stösst auf reges Interesse», sagt Macula.

«Corona beschleunigt den Strukturwandel», sagt Anja Feierabend (39), Dozentin am Center for Human Research Management der Uni Luzern. «Viele Berufstätige müssen sich weiterbilden oder gänzlich neu orientieren.» Für Müller-CEO Reinau ist deshalb klar: «Als Arbeitgeber müssen wir unsere Angestellten in ihrer Karriereplanung unterstützen.» Sein Unternehmen bietet ihnen eine breite Palette an Schulungen an.

Doch nicht alle Firmen legen sich so ins Zeug. Das Schweizer HR-­Barometer der Uni Luzern zeigt: 2020 gingen die Weiterbildungs­angebote der Unternehmen zurück. 38 Prozent der Beschäftigten erhielten überhaupt keine Möglichkeit dazu. «Dabei ist die Arbeitsmarkt­fähigkeit jetzt umso wichtiger, weil die Arbeitgeber die Jobs häufig nicht mehr garantieren können», sagt Dozentin Feierabend. «Sie stehen deshalb auch in der Pflicht.»

Je mehr von ihnen mitziehen, desto stärker der Effekt: Die Schweiz bildet sich weiter – mitten in der Pandemie.

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