Tim Demont (18) gibt Zahlen an einem Computer ein, setzt damit eine Maschine in Bewegung, die ein Metallteil auf die exakt richtige Grösse und Form zufräst. «Das Schwierige bei dieser Arbeit ist es, den genau richtigen Winkel hinzukriegen», erklärt der junge Tösstaler.
Nächsten Sommer schliesst er seine Lehre als Polymechaniker ab – und wird damit zu einer der gesuchtesten Fachkräfte auf dem Schweizer Arbeitsmarkt. In der Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie (MEM) kommen auf 100 offene Stellen derzeit 90 Arbeitslose. Diese Lücke wird sich in den kommenden Jahren laufend weiter auftun, wie eine Erhebung von BAK Economics im Auftrag von Angestellte Schweiz ergibt. Die Zahlen liegen Blick vor.
Die Jungen wollen ans Gymi
«Wo ich hinschaue, sehe ich Stellenausschreibungen», sagt Tim Demont. Entscheidend für die Wahl der Lehrstelle waren für ihn damals aber nicht die Jobaussichten, sondern, dass er etwas mit den Händen tun kann. «Ich habe einen guten Mix zwischen praktischer Anwendung und Hintergrundwissen.»
Doch immer mehr Jugendliche wollen nur den Kopf statt die Hände benutzen – und entscheiden sich entweder für eine Bürolehre oder gleich das Gymnasium mit anschliessendem Studium. Für die Schweizer Industriebetriebe – sie erwirtschaften immerhin 7 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) – wird das zunehmend zum Problem.
Zwei-Klassen-Gesellschaft zwischen Büro und Produktion
Gerade, weil die Industriearbeiter in den hiesigen Produktionshallen von Homeoffice und Teilzeitarbeit nur träumen können. Während andere sich als digitale Nomaden für 2 Monate im Jahr nach Bali absetzen, steht Tim Demont im Sommer bei brütend heissen 35 Grad an der Maschine.
Sein Arbeitgeber, der traditionsreiche Industriekonzern MAN Energy Solutions, sucht derzeit in Zürich 80 Arbeitskräfte – bei gesamthaft 850 Angestellten. «Besonders bei den Spezialisten ist es schwierig», erzählt die HR-Verantwortliche Marilena Della Casa (47). Und es kämen nicht genug Junge nach. «Derzeit decken junge Talente unseren Bedarf noch, aber in Zukunft wird es wohl Engpässe geben.»
Gesucht sind neben Polymechanikern etwa Ingenieurinnen und ICT-Fachkräfte. Gerade da stehen die Industriekonzerne in Konkurrenz mit den grossen Techfirmen. «Wir sind nicht Google», gibt Della Casa zu. Der US-Gigant ist bekannt für hohe Löhne und ausgefallene Büros, Rutschbahn zur Kantine inklusive. In Zürich beschäftigt Google 5000 Angestellte.
Dagegen wirken die traditionellen Schweizer Industriebetriebe geradezu verstaubt. Dieses Image haben sie sich auch selber zuzuschreiben, kritisiert Della Casa. «Industrieunternehmen haben sich zu schlecht verkauft. Es ist an der Zeit, durch besseres Storytelling die Bedeutung der Industrie hervorzuheben.»
Rieter-Entlassene sollen einspringen
Viele Industriebetriebe kämpfen derzeit mit dem konjunkturellen Abschwung, mancherorts muss sogar Personal abgebaut werden. Der Winterthurer Industriekonzern Rieter etwa hat angekündigt, bis zu 900 Angestellte vor die Tür zu setzen. «Nachdem wir davon gehört haben, haben wir uns direkt bei Rieter gemeldet, um Personal zu übernehmen», erzählt Della Casa. Denn bei MAN sind die Auftragsbücher trotz konjunkturellem Abschwung gut gefüllt. Und so oder so: Selbst wenn der konjunkturelle Teil des Fachkräftemangels zurückgeht, der strukturelle Teil bleibt.
Um dem entgegenzutreten, setzen die Industriefirmen unter anderem auf Fachkräfte aus dem Ausland und Weiterbeschäftigung übers Pensionsalter hinaus.
Für Tim Demont ist die Pensionierung noch ein ganzes Arbeitsleben entfernt. Zuerst steht sein Lehrabschluss im Fokus. «Danach bleibe ich noch mindestens ein Jahr hier», erzählt der 18-Jährige. Sein Arbeitgeber wird alles daran setzen, dass es mehrere Jahre werden.