Diese Woche fand in Genf eine Konferenz mit rund 900 Wissenschaftlern, Diplomatinnen und weiteren Teilnehmenden statt. Organisiert hat sie die Geneva Science and Diplomacy Anticipator (GESDA), eine neue Stiftung, die die weltweiten wissenschaftlichen Entwicklungen auf dem Radar hat. Als Stiftungspräsident konnte der Bundesrat den langjährigen Nestlé-Lenker Peter Brabeck (76) gewinnen. SonntagsBlick traf ihn in Genf.
Herr Brabeck, warum bringen Sie in Genf Wissenschaftler und Diplomatinnen zusammen?
Peter Brabeck-Letmathe: Die Wissenschaft schreitet schneller voran, als die Politik folgen kann. Diese ist derart mit dem Alltag beschäftigt, dass sie zu wenig Zeit findet, um über langfristige Entwicklungen nachzudenken. Und so kann der wissenschaftliche Fortschritt nicht angewendet werden, weil der politische Rahmen fehlt. Durchbrüche verhungern in der Schublade.
Wie wollen Sie das ändern?
Wir haben die Meinungen von weltweit rund 4000 Wissenschaftlern eingeholt. Sie haben in allen relevanten Forschungsgebieten Prognosen darüber erstellt, welche technologischen Durchbrüche in fünf, zehn und 25 Jahren zu erwarten sind. Damit konfrontieren wir Politik und Diplomatie.
Was soll die Politik dann tun?
Sich fragen: Was braucht es, damit wissenschaftliche Durchbrüche der Allgemeinheit zugutekommen und nicht in den Händen einiger weniger Grosskonzerne oder Regierungen bleiben? Aber auch: Gibt es Gebiete, in denen die Menschheit aus ethischen Gründen auf weitere Forschung verzichten sollte?
Peter Brabeck-Letmathe wurde 1944 in Villach geboren. Der Österreicher begann nach seinem Wirtschaftsstudium 1968 beim Schweizer Nahrungsmittelkonzern Nestlé – und blieb fast 50 Jahre lang! Nach Stationen rund um den Globus war er 1997 bis 2005 CEO, danach bis 2017 Verwaltungsratspräsident. Heute präsidiert er die GESDA-Stiftung, hinter der unter anderen die Eidgenossenschaft und der Kanton Genf stehen und die die wissenschaftliche Entwicklung frühzeitig erkennen soll. Brabeck ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und wohnt in Verbier VS.
Peter Brabeck-Letmathe wurde 1944 in Villach geboren. Der Österreicher begann nach seinem Wirtschaftsstudium 1968 beim Schweizer Nahrungsmittelkonzern Nestlé – und blieb fast 50 Jahre lang! Nach Stationen rund um den Globus war er 1997 bis 2005 CEO, danach bis 2017 Verwaltungsratspräsident. Heute präsidiert er die GESDA-Stiftung, hinter der unter anderen die Eidgenossenschaft und der Kanton Genf stehen und die die wissenschaftliche Entwicklung frühzeitig erkennen soll. Brabeck ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und wohnt in Verbier VS.
Machen Sie bitte ein Beispiel.
Das Internet wurde in Genf erfunden und ist heute die Geschäftsgrundlage für die drei grössten Konzerne der Welt. Erst heute merken Politiker, dass sie das Ganze hätten regulieren müssen, damit niemand so dominant wird. Mit GESDA hätte man das kommen sehen.
Sind die grössten Errungenschaften nicht unvorhersehbar? Kein Mensch hatte erwartet, dass das Smartphone die Welt verändern würde.
Keine Entwicklung kommt auf einen Schlag. Auch wenn wir sagen, die Corona-Impfungen seien innert zwölf Monaten entwickelt worden, ist das vollkommen falsch. Die mRNA-Technologie ist seit 30 Jahren bekannt. Doch nur ganz wenige Firmen haben daran geglaubt und jahrelang in die Forschung investiert. Und erst dann sind die Politiker auf die Idee gekommen, dass mRNA eine Lösung sein könnte.
Was wird die nächste grosse Veränderung für die Menschheit?
Wir haben mehr als 200 Entwicklungen auf dem Radar. Ich persönlich glaube, dass die wichtigsten Durchbrüche von Quantencomputern kommen werden. Die Optimisten glauben, dass sie bereits in fünf Jahren anwendbar sein werden. Realistisch sind wohl zehn Jahre.
Das heisst?
Dass sich die Kapazität der heute besten Computer vertausendfachen wird. Das ermöglicht echte künstliche Intelligenz. Die Maschine wird dann so denken wie der Mensch. Sie ist nicht mehr abhängig von Daten, die der Mensch ihr gibt, sondern lernt selber.
Tönt unheimlich.
Das ist sehr unheimlich! Darum braucht es Regulierungen. Die Entwicklung liegt momentan weltweit in den Händen von drei Firmen und vier Ländern. Der Rest nimmt zwar auch irgendwie daran teil, aber das Herz der Technologie ist konzentriert. Wir sollten in Zukunft keine neuen Facebooks und Googles zulassen, die so viel Macht haben, um politisch gefährlich werden zu können.
Erwarten Sie neben der künstlichen Intelligenz eine weitere Revolution?
Die Fusion von Bio- und Informationstechnologie. Schon heute kann ich künstliche Knie haben, die stärker sind als meine eigenen. Es gibt Menschen, die mit künstlichen Beinen schneller laufen und deswegen nicht an Olympischen Spielen teilnehmen dürfen. Ein künstliches Herz ist wahrscheinlich weniger anfällig als mein eigenes. Das führt zu fundamentalen Fragen: Wie lange ist ein Mensch noch ein Mensch? Wann wird er zum Avatar und wann zum Roboter?
Ja, wann?
Auf einer Konferenz in Hongkong war ein Roboter dabei. Der hat nicht nur einen Vortrag gehalten, sondern auch einfache Fragen beantwortet. Dieser Roboter hatte eine Staatsbürgerschaft und einen Reisepass. Auch Avatars gibt es bereits: etwa Leute, die sich eine Antenne einsetzen lassen, damit sie in der Nacht sehen. Sie sind schon heute etwas zwischen Mensch und Roboter.
Sie haben sich bei Nestlé Ihr Leben lang mit Ernährung beschäftigt. Was ist da zu erwarten?
Sie wird mehr auf pflanzlichen als auf tierischen Kalorien aufbauen. Nicht aus ethischen, sondern aus umwelttechnischen Gründen: Der Wasserverbrauch für eine tierische Kalorie ist zehnmal höher als für eine pflanzliche. Darum können wir die zukünftig zehn Milliarden Menschen nicht wie heute ernähren. Dazu haben wir nicht genug Wasser, nicht genug Boden. Das heisst nicht, dass wir gar kein Fleisch mehr essen werden, aber bestimmt nicht wie die Texaner jeden Tag ein 700-Gramm-Steak.
Zurück zum Sonntagsbraten also?
Ja, meine Generation ist mit Fleisch einmal pro Woche aufgewachsen, vielleicht zweimal, und es war etwas Spezielles. Im Übrigen bin ich zutiefst überzeugt, dass Essen immer ein emotionaler Teil des Menschen bleiben und niemals durch eine Tablette ersetzt wird, auch wenn dies möglich wäre.
Was ist in der Gentechnik zu erwarten?
Es gibt Forscher, die sogenannte Chimären-Embryos erzeugt haben – halb Mensch, halb Affe. Der Fötus wurde nun aber getötet. Oder das Klonen von Kindern: Das kann auch zu einer Erweiterung der menschlichen Kapazitäten führen. Hier braucht es internationale Regeln, was erlaubt ist und was nicht. Solche Forschungen können positiv sein, aber auch verheerende Folgen haben.
Es wird immer Bösewichte geben, denen Regeln egal sind.
Mit Rahmenbedingungen werden illegale Projekte Einzelfälle bleiben. Für einen Wissenschaftler ist die Veröffentlichung seiner Forschung in Fachzeitschriften meist der wichtigste Motivationstreiber. Bringen wir sie dazu, zu gewissen Themen nicht zu publizieren, ist der Anreiz für ethisch fragwürdige Forschung bereits viel geringer.
Welches wäre das richtige Gremium, um solche Regeln festzusetzen?
Das gibt es noch nicht. Für Quantencomputer könnte eine Art Cern errichtet werden, das von vielen Ländern gestützt wird. So würde die Macht einiger weniger Firmen begrenzt und die Nutzung demokratisiert. Ein Wissenschaftsrat, der ethische Grundsätze vorschlägt, wäre auch eine Möglichkeit. Den könnte man zum Beispiel in Genf ansiedeln.
Wie wichtig ist Genf heute für die Welt?
Mit dem zweitgrössten Uno-Zentrum nach New York immer noch sehr wichtig. Nur muss Genf auch neue Institutionen anziehen – oder die alten müssen sich neu erfinden. Mit GESDA wollen die Regierungen in Bern und Genf sicherstellen, dass Genf attraktiv bleibt. Wenn wir Lösungen vorschlagen, dann haben Genf und die Schweiz das erste Vorrecht, diese Lösungen umzusetzen – sofern sie daran interessiert sind. Wenn nicht, dann haben wir das Recht, woanders hinzugehen.
Hat die Wissenschaft durch Corona an Bedeutung gewonnen?
Ja, gleichzeitig ist die Wissenschaft in eine Konfliktzone der öffentlichen Meinung geraten. Denn auch in der Wissenschaft gibt es nur hohe Wahrscheinlichkeiten und keine Wahrheiten. Wenn sich Politiker an der Wissenschaft bedienen, dann nimmt jeder, was ihm gerade passt.
Wie haben Sie die Corona-Zeit erlebt?
Von Beginn weg sehr virulent: Ich lag zwölf Tage auf der Intensivstation. Das war einer meiner härtesten Kämpfe. Die Krankheit war wie ein räudiger Hund, der mir im Nacken sass und nicht losliess. Das war Tag und Nacht ein harter Kampf.
Wie hat das Ihre Einstellung zur Pandemie geprägt?
Ich war überrascht, wie unvorbereitet wir als Gesellschaft waren. Dabei haben wir bereits 2015 am WEF eine Pandemie vorausgesagt. Während ich im Krankenhaus lag, haben die Politiker im französischen Fernsehen noch gelacht. Und als sie endlich reagierten, haben sie vollkommen übertrieben.
Sie fanden die Corona-Massnahmen übertrieben?
Die Menschheit hat in ihrer Geschichte noch nie so viel wirtschaftlichen Schaden angerichtet wie in diesen Monaten, wohl nicht einmal während des Zweiten Weltkriegs. In der Schweiz haben wir das gar nicht richtig mitbekommen: Die Anzahl von extremer Armut betroffener Menschen hat sich von 720 Millionen auf eine Milliarde Menschen erhöht. Die Kindersterblichkeit wegen Hunger hat sich versechsfacht: Für jeden Covid-Toten sind zusätzlich 1,6 Kinder an den negativen Auswirkungen gestorben! Dazu kommen die zahlreichen Jugendlichen, die zwei Jahre lang nicht zur Schule gingen. Diese Folgen wären vermeidbar gewesen, wenn wir die Pandemie besser antizipiert hätten und die Politik besser vorbereitet gewesen wäre. GESDA sollte helfen, dass dies in Zukunft nicht passiert.