Laufen wir im Herbst in den Corona-Hammer? Diese Frage ist allgegenwärtig, obwohl die Pandemie in der Schweiz gerade weit weg ist. Seit April gibt es hierzulande keine Corona-Massnahmen mehr. Doch nach dem Sommer droht uns die nächste heftige Welle, warnt der Moderna-Chefarzt Paul Burton (53). Er ist gerade in seinem Homeoffice in der US-Stadt Cambridge, als er Blick ein virtuelles Interview gibt.
Blick: Die Pandemie ist gefühlt vorbei. Wenn wir einmal in den Geschichtsbüchern zurückblicken: War es die Omikron-Variante, die uns alle erlöst hat?
Paul Burton: Da muss ich Sie leider enttäuschen. Die Pandemie hält an, und ich glaube nicht, dass wir in absehbarer Zeit einen endemischen Zustand erreichen werden. Es wird noch viele weitere Varianten geben, vielleicht sogar noch schwerwiegendere. Und dass Omikron mild ist, ist eine Fehleinschätzung – das Gegenteil ist der Fall!
Wie bitte? Seit Omikron müssen doch viel weniger Menschen ins Spital eingeliefert werden.
Die weltweiten Daten sprechen eine andere Sprache. In Sachen Hospitalisierungen ist Omikron so schlimm wie die Delta-Variante. Der Irrglaube ist aber leider weitverbreitet. Wenn Sie heute Menschen auf der Strasse fragen, wie hoch das Risiko bei einer Covid-Erkrankung ist, ins Spital eingewiesen zu werden oder sogar zu sterben, hat kaum jemand eine Ahnung.
Wie kam es denn zu dieser Fehleinschätzung in der Öffentlichkeit?
Die Menschen sind mit Daten überhäuft worden. Wenn man sich im Internet bewegt, findet man überall neue Statistiken. Da müssen wir uns als Hersteller, aber auch die Behörden und die Regierungen selber an der Nase nehmen. Unsere Aufgabe ist es auch, der Bevölkerung die wichtigsten Daten übersichtlich aufzubereiten.
In der Schweiz und auch bei Ihnen in Amerika leben wir in einer anderen Realität. Der Alltag ist eingekehrt, die Pandemie ist zur Endemie geworden.
Menschen, die geimpft und geboostert sind, können tatsächlich in einer gewissen Normalität leben. Aber wer denkt, dass mit der endemischen Lage das Virus irgendwann verschwindet, liegt falsch. Es ist unwahrscheinlich, dass wir Sars-CoV-2 jemals loswerden. Das Virus mutiert ständig. Wir können aber einen endemischen Zustand erreichen, wenn wir drei Dinge tun.
Und die wären?
Hören wir endlich damit auf, das Tragen einer Maske und die Umsetzung von Hygieneregeln als Niederlage anzusehen. Wenn wir einen vollgepackten Event besuchen, sollten wir uns aus Eigenverantwortung und Solidarität schützen. Zweitens: Wir müssen zuverlässige Daten erhalten. Es ist den Leuten und Behörden teilweise nicht klar, ob man Fälle meldet, wie man Fälle meldet und wer die Fälle verfolgt. Wenn wir aber die Daten nicht kontinuierlich mit der Welt teilen, werden wir von der nächsten Welle überrumpelt sein.
Und drittens?
Boostern. Das ist die wichtigste Massnahme, um einen endemischen Zustand zu erreichen. Und das müssen wir Jahr für Jahr machen, denn das Virus verschwindet nicht. Wenn die Bevölkerung untergeimpft ist, bietet das Sars-CoV-2 Tür und Tor.
Also braucht es eine vierte Corona-Impfung im Herbst?
Eigentlich besteht jetzt schon Bedarf für einen Booster. Schauen Sie sich Südafrika an: Dort sind die Untervarianten von Omikron auf dem Vormarsch. Weltweit verzeichnen wir nach wie vor hohe Fallzahlen. Bis im November wird der Booster für die meisten Menschen elf bis acht Monate zurückliegen. Und ich rechne bis dahin auch mit weiteren Varianten des Virus. Also wenn nicht jetzt, dann gilt es allerspätestens im Herbst, als Vorbereitung für den Winter, die Bevölkerungen zu boostern.
Empfehlen Sie jedem – also auch den Jungen – einen Booster-Shot?
Auf jeden Fall. Die Chance, dass sich junge Menschen anstecken, ist hoch. Es starben zu Beginn der Pandemie auch viele Junge an Covid-19, das dürfen wir nicht vergessen. Aber klar: Das Risiko, ins Spital zu kommen, ist geringer, auch haben junge Erwachsene ein besseres Immunsystem. Der Fokus sollte bei den Ü50ern liegen. Die Daten zeigen, dass das Risiko frappant ansteigt, wenn das 50. Lebensjahr überschritten wird. Übrigens auch ohne Vorerkrankungen. Weiter sollten sich beispielsweise Berufstätige im Gesundheitsbereich oder Gefängnisinsassen unbedingt mit einem Booster schützen – sie sind einem noch höheren Ansteckungsrisiko ausgesetzt.
Sie haben als Medizin-Chef des börsenkotierten Unternehmens Moderna ein direktes finanzielles Interesse daran, dass sich die Menschen mit Ihrem Impfstoff regelmässig boostern lassen. Warum sollte man auf Sie hören?
Das verstehe ich. Ich bin voreingenommen, keine Frage. Ich bin aber voreingenommen, weil die Wissenschaft und die Zahlen eine deutliche Sprache sprechen. In Amerika sind mittlerweile eine Million Menschen an Covid-19 verstorben. Erinnern Sie sich, als wir im vergangenen November jeden Omikron-Fall einzeln vermeldet haben? Jeder US-Bundesstaat, jedes Land. Und dann ist das Ding einfach über die Welt hereingebrochen. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass wir in einer Welt leben, in der so viele Menschen geimpft und geboostert sind und sich trotzdem irgendwann mit Omikron angesteckt haben. Ich bin verblüfft über die Fähigkeiten des Virus, das ständig mutiert und überall auf der Welt ein so hohes Mass an Krankheiten verursacht. Wir müssen konsequent bleiben und weiterhin alles tun, was wir können, um dieses Virus zu bekämpfen.
Dass der Impfstoff zu 95 Prozent vor einer Ansteckung schützt, beweisen die Daten. Aber ist es nicht enttäuschend, dass der Schutz kurzfristiger anhält als zu Beginn erhofft – und dass somit regelmässige Booster notwendig werden?
Nur eine einzige Impfung wäre ideal gewesen. Aber das war auch etwas illusorisch. Die meisten Impfstoffe müssen von Zeit zu Zeit aufgefrischt werden. Und übrigens: Wenn man sich die Daten aus der Schweiz anschaut, dann ist der Schutz vor der Delta-Variante nach wie vor hoch. Leider hat das Virus erwartungsgemäss mutiert und wird weiter mutieren, das macht die Auffrischungsimpfungen, insbesondere gegen neue Varianten, unumgänglich.
Meine These: Moderna und die Regierungen werden grosse Probleme haben, weitreichende Teile der Bevölkerung zu einem weiteren Booster Anfang Herbst zu bewegen.
Die Corona-Müdigkeit ist real. Auch ich selbst spüre das. Deshalb hoffen wir alle, dass die Lage im Frühling und Sommer stabil bleibt und die Menschen ihre Batterien aufladen können. So sind wir im Herbst hoffentlich wieder bereit, die Herausforderungen zu meistern. Und dazu gehört auch das Boostern.
Paul Burton (53) ist seit Juli 2021 Chief Medical Officer beim Impfstoffhersteller Moderna. Als Chefarzt des US-Pharmaunternehmens leitet er dessen Bestrebungen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie. Zuvor arbeitete er während 16 Jahren für Johnson & Johnson. Burton stammt aus Grossbritannien und hat an der Universität London promoviert.
Paul Burton (53) ist seit Juli 2021 Chief Medical Officer beim Impfstoffhersteller Moderna. Als Chefarzt des US-Pharmaunternehmens leitet er dessen Bestrebungen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie. Zuvor arbeitete er während 16 Jahren für Johnson & Johnson. Burton stammt aus Grossbritannien und hat an der Universität London promoviert.
Ein weiteres Thema ist Long Covid. Wie sehr beschäftigt Sie das bereits?
Long Covid ist real und wirklich schlimm. Einer von drei Menschen leidet nach einer Erstinfektion daran. Die Auswirkungen auf unser Gesundheitssystem werden sehr gross sein. Die Fälle von Diabetes, Depressionen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen etc. dürften zunehmen – auch bei Kindern. Es ist verständlich, dass sich die Welt zuerst mit der akuten Phase der Pandemie beschäftigt hat. Wir wussten über Long Covid schon länger Bescheid. Jetzt ist es an der Zeit, dass die Langzeitfolgen der Krankheit hohe Aufmerksamkeit erhalten und auch sehr ernst genommen werden.
Fakt ist aber auch, dass Long Covid in den allermeisten Fällen mild verläuft und schnell vorüber ist. Wie schlimm ist es wirklich?
Stimmt schon, aber wenn Millionen Menschen daran erkranken, bleibt eine beträchtliche Summe übrig. Die Menge macht es also aus. Und letztlich wissen wir es einfach auch noch nicht, welche Auswirkungen eine Corona-Erkrankung in zehn Jahren auf unseren Körper hat. Nehmen wir das Epstein-Bar-Virus als Beispiel: Jüngste Daten deuten darauf hin, dass es eine wesentliche Ursache für Multiple Sklerose ist. Wer hätte sich das je vorstellen können?
Nach zwei Jahren Pandemie haben wir mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine die nächste Krise. Befürchten Sie, dass wir Corona bis im Herbst vergessen haben?
Der Krieg in der Ukraine steht zu Recht im Vordergrund unserer Gedanken. Gerade jetzt braucht diese Krise die volle Aufmerksamkeit, um zu versuchen, sie so schnell wie möglich zu beenden. Es liegt in unserer Natur, dass man sich nicht mit allen schrecklichen Dingen gleichzeitig auseinandersetzen kann. Wir sind alle auch nur Menschen.