Die Schweizer Bevölkerung und die Wirtschaft liegen im Clinch: Während die einen gegen die Zuwanderung wettern, wünschen sich die anderen noch mehr davon.
In einer aktuellen Umfrage von Tamedia und «20 Minuten» sprechen sich zwei Drittel der Befragten für eine stärkere Begrenzung der Zuwanderung aus. Am deutlichsten ist der Widerstand gegen die Zuwanderung bei den SVP-Wählerinnen und -Wählern: 93 Prozent von ihnen sind für strengere Beschränkungen. Unter den SP- und Grünen-Wählern sprechen sich 41 respektive 37 Prozent für neue Einschränkungen aus.
Wirtschaft braucht Zuwanderung
Aufhorchen lassen die Werte bei den wirtschaftsliberalen Wählerinnen: Unter den FDP-Sympathisanten sind 73 Prozent für strengere Zuwanderungsbeschränkungen. Bei den Grünliberalen 51 Prozent. Die Skepsis gegenüber der Zuwanderung im liberalen Flügel erstaunt, schliesslich leiden Schweizer Unternehmen an einem akuten Fachkräftemangel – und decken ihn auch mit Zuwanderern.
Ohne diese ausländischen Arbeitskräfte wird es auch in Zukunft nicht gehen, ssagt Rudolf Minsch (56), Chefökonom beim Wirtschaftsdachverband Economiesuisse. «In den nächsten Jahren gehen jährlich bis zu 30'000 mehr Leute in Pension, als neu in den Arbeitsmarkt eintreten», rechnet er vor. «Die Zuwanderung ist ein Ventil, um den Arbeitskräftemangel zu dämpfen.»
81'000 Menschen kamen laut Staatssekretariat für Migration (SEM) letztes Jahr unter dem Strich zur ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz hinzu, 20'000 mehr als im Vorjahr.
Höhere Pensen statt Zuwanderung
Neben den Arbeitskräften kamen auch mehr Flüchtlinge und Asylsuchende in die Schweiz. 24'500 stellten letztes Jahr ein Asylgesuch, ein Anstieg um 64 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Hinzu kommen 66'000 Ukrainerinnen und Ukrainer, die mit Schutzstatus S in der Schweiz leben.
«All diese Leute werden in einen Topf geworfen», befürchtet Swissmem-Direktor Stefan Brupbacher (55). Er ist überzeugt, dass die Bevölkerung die Zuwanderung differenzierter sieht als die vorliegende Umfrage vermuten lässt. Dazu zitiert er eine Umfrage des Branchenverbandes Interpharma, die im März zum Schluss kam, dass 59 Prozent der Bevölkerung hauptsächlich Vorteile in den bilateralen Verträgen mit der EU sehen. «Das ist ein klares Bekenntnis zur Personenfreizügigkeit.»
Dennoch müssen man die Zuwanderungsskepsis in der Bevölkerung ernst nehmen, findet Brupbacher. Und nimmt die Schweizer gleich selber in die Pflicht. «Wenn wir das inländische Arbeitskräftepotenzial stärker nutzen, braucht es auch weniger Zuwanderung.» Konkret: Höhere Pensen und länger arbeiten. Auch Innovation und Digitalisierung können helfen, indem sie den Arbeitskräftebedarf senken.