Nathan Anderson (39) hat einen schlechten Ruf. In einem Porträt im «New York Magazine» wurde er einmal mit Teufelsohren abgebildet. Die Story erschien vor zwei Jahren, als der Finanzspekulant eine Attacke gegen den indischen Milliardär Gautam Adani (61) ritt. Der Angriff kostete den Freund des indischen Premierministers Narendra Modi (73) mehr als 50 Milliarden Dollar.
Am Donnerstag schoss Anderson erneut aus allen Rohren. Diesmal hatte er die börsenkotierte Genfer Softwarefirma Temenos im Visier. Um die Mittagszeit verschickte er einen Bericht an Investoren und Medien mit dem Titel: «Temenos: schwerwiegende Unregelmässigkeiten in der Buchhaltung, gescheiterte Produkte und ein illusorischer Turnaround».
Die Bombe platzte. An der Schweizer Börse stürzten die Aktien des Softwareunternehmens ab und verloren bis Handelsschluss fast 30 Prozent. Auch am Freitag rutschten sie weiter ab und verloren nochmals 4,6 Prozent. Für die Aktionäre von Temenos ist das eine Katastrophe: Ihr Buchverlust beläuft sich auf über 2 Milliarden Franken. Martin Ebner ist mit knapp 13 Prozent der grösste Investor und verlor 250 Millionen Franken. Das entspricht rund 7 Prozent seines auf 3,3 Milliarden geschätzten Vermögens.
«Es gäbe schon etwas zu sagen ...»
Als der SonntagsBlick am Freitagnachmittag bei Ebners Investmentfirma Patinex AG in Wilen bei Wollerau SZ anruft, hebt Ralph Stadler den Hörer ab. Er gehört seit vielen Jahren zum engsten Kreis des legendären Investors. «Es gäbe schon etwas zu sagen, aber wir wollen uns nicht öffentlich dazu äussern», sagt Stadler. Dass sich Ebner von einem jungen Hedgefonds-Manager übertölpeln liess, muss ihm, einst selbst ein gefürchteter Raider, zu denken gegeben haben.
Der Angriff auf Temenos ist einmalig in der jüngeren Schweizer Wirtschaftsgeschichte. Anderson gehört mit seinem Hedgefonds Hindenburg Research zu einer kleinen und umstrittenen Gruppe von sogenannten aktivistischen Shortsellern, auch Leerverkäufer genannt. Sie kaufen Aktien von angeschlagenen und zum Teil dubiosen Unternehmen und spekulieren auf fallende Kurse.
Hindenburg Research will die «von Menschen gemachten Katastrophen aufspüren, die im Markt herumschwirren», wie das Credo des Hauses lautet. Deshalb trägt das Unternehmen auch das legendäre Luftschiff im Namen. Anderson ist überzeugt, dass der Zeppelinbrand von 1937 eine menschengemachte und damit vermeidbare Katastrophe war.
Hochriskante Leerverkäufe
Um mit fallenden Kursen Geld zu verdienen, müssen sich Spekulanten vorher für eine bestimmte Zeit Aktien leihen, die sie dann «leer» verkaufen. Fallen die Kurse, kauft der Spekulant die Papiere zu einem möglichst niedrigen Preis zurück und gibt sie dem Besitzer wieder. Die Differenz streicht er als Gewinn ein. Der Trick funktioniert nur bei fallenden Kursen. Steigen die Kurse, kann es sehr teuer werden, weil der Spekulant die Aktien zu einem höheren Preis zurückkaufen muss. Da das Verlustpotenzial theoretisch unbegrenzt ist, gelten Leerverkäufe als hochriskant.
Besonders effektiv wird die Short-Strategie, wenn schlechte Schlagzeilen den Kursverfall zusätzlich beschleunigen. Hier liegt die eigentliche Kernkompetenz von Nathan Anderson und seinem Hedgefonds, der seine Attacken mit umfangreichen und aggressiv formulierten Analysen begleitet.
Vier Monate habe man für die Recherchen gebraucht, behauptet der Hedgefonds. Man habe mit 25 ehemaligen Mitarbeitern des Unternehmens gesprochen. Die Analyse habe Hinweise auf manipulierte Gewinne und gravierende Unregelmässigkeiten in der Buchhaltung ergeben. Die Rede ist von «Scheinpartnerschaften, unkontrollierten Vertragsverlängerungen, rückdatierten Verträgen, exzessiver Aktivierung von F&E-Investitionen, die anscheinend nicht existierten, und anderen klassischen buchhalterischen Warnzeichen».
Heikle Rolle von PWC?
Das Problem für Temenos: Die Angriffe von Hindenburg werden von der internationalen Börsenszene in der Regel ernst genommen. Wie eine Auswertung von Bloomberg zeigt, brachen bei 25 von 27 Angriffen die Aktien am ersten Tag ein. In elf Fällen erholten sich die Kurse nach zwölf Monaten wieder auf das Niveau von vor dem Angriff. In 14 Fällen fielen die Kurse in den zwölf Monaten nach dem Angriff weiter. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Aktien von Temenos wieder erholen, liegt also bei weniger als 50 Prozent.
Die Softwarefirma wurde von dem Angriff unvorbereitet getroffen. Sie weist die Vorwürfe «entschieden zurück». Die Enthüllungen werfen ein schlechtes Licht auf den Langzeitlenker Andreas Andreadis (58). Der Zypriote war im vergangenen Jahr als operativer Chef zurückgekehrt, als ein anderer aktivistischer Investor in schrillen Tönen die Absetzung des damaligen CEO forderte und das Management pauschal als «Aasgeier» beschimpfte, die sich «jahrelang schamlos die Taschen gefüllt» hätten.
Unangenehme Fragen kommen auch auf die Revisionsgesellschaft PWC zu, welche die Bücher von Temenos seit 20 Jahren prüft – eine ungewöhnlich lange Zeit. Ein Sprecher wollte auf Anfrage keine Stellung nehmen. PWC war auch die Revisionsstelle der Credit Suisse. Sie gab der Grossbank noch wenige Tage vor dem Zusammenbruch grünes Licht.