Okara soll die Lösung der Lebensmittelkrise sein
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«Es ist sehr gesund»:Okara soll die Lösung der Lebensmittelkrise sein

Lebensmittel-Krise
Der Koch, der die Welt retten will

Bruno Wüthrich kochte sich in den Kulinarik-Olymp, von Tokio bis Paris, Bundesräte waren seine Gäste. Nun will er die Weizen-Krise lösen – mit Tofu-Abfallware.
Publiziert: 09.05.2022 um 11:26 Uhr
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Aktualisiert: 09.05.2022 um 15:04 Uhr
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Überall ist Okara drin. Koch Bruno Wüthrich kocht mit der unbekannten «Abfallware».
Foto: Siggi Bucher
Tobias Marti Text und Siggi Bucher Fotos

Wie er so in der Küche seiner Blockhütte steht, umgeben von der Natur des Diemtigtals im Berner Oberland, auf dem Esstisch goldene Medaillen von vergangenen Triumphen; wie er im Spargelsüppchen rührt, mit wissendem Lächeln im Dreitagebart essbare Blumen und Kräuter streichelt, da könnte man denken, er sei zufrieden, er sei zur Ruhe gekommen. Doch Bruno Wüthrich (61) ist nicht fertig. Wie auch? Der pensionierte Koch hat eine Mission. Und die heisst Okara.

Jährlich 1000 Tonnen für die Tonne

Davon hat kaum jemand je gehört. Was auch schon Wüthrichs grösstes Problem ist. Denn er sieht in Okara nichts weniger als die Lösung für den Hunger in der Welt. Gerade jetzt, wo der Mangel an ukrainischem Weizen für Millionen Menschen schlimm auszugehen droht, könnte Okara das traditionelle Mehl ersetzen.

Okara ist nicht dieses Gemüse, das es beim Inder nebenan gibt – das heisst Okra. Okara fällt bei der Herstellung von Tofu an und ist ein Nebenprodukt, manche würden auch sagen, ein Abfallprodukt. Was das nächste Problem wäre. Denn mit Abfall hat der geschmacksneutrale, griessige Brei aus Sojabohnen wenig zu tun. Okara ist reich an Nahrungsfasern, Proteinen und guten Fetten. Es enthält locker mehr Eiweiss als Kartoffeln.

Aber Okara hat ganz klar ein Imageproblem. Deshalb landet es im Futtertrog, wird zu Dünger und Biogas oder schlicht verbrannt. 1000 Tonnen Okara-Ausschuss fallen schweizweit jedes Jahr an. Und das betrifft nur die Bioware. Wüthrich sagt entsetzt: «Wir können es uns nicht mehr leisten, so viele Lebensmittel zu vernichten.»

Alle Versuche scheiterten

Der Gourmetkoch ist gut vernetzt, kam weit herum, kochte in Tokio, Moskau, Paris, um nur einige seiner Stationen zu nennen, wurde Europameister und Olympiasieger, führte die legendäre Schultheissenstube im Berner Schweizerhof, übernahm das Restaurant Schloss Spiez. Es gab eine Zeit, da wusste er auch sehr genau, welcher Bundesrat sein Weinglas schneller leerte, als es der Serviertochter geheuer war.

Also ging er für seine Mission Klinken putzen. Wegen der Güezi war er bei Kambly in Trubschachen BE, wegen der Kroketten bei Kadi in Langenthal BE, wegen der Chips bei Zweifel in Zürich-Höngg und bei Kentaur in Lützelflüh BE wegen der Cornflakes… Keiner sprang auf.

Er bekochte die Chefetagen von Migros und Coop. «Alle waren begeistert», sagt Wüthrich, «nur sind das keine Pioniere. Die warten auf Deppen wie mich und übernehmen dann später.»

Er klapperte mehr als 40 Heime und Spitäler ab, überliess den Betriebsküchen Okara und ein Kochbuch dazu… Keine Reaktion.

Man muss an dieser Stelle sagen, dass Wüthrich ein Kochbuch über seine Okara-Obsession verfasst hat, eines über Tofu und Seitan. Und noch ein paar mehr. Pro verkauftes Kochbuch bekommt er zwei Franken, 20 Okara-Bibeln setzt er im Jahr ab. «Ich verdiene nichts daran», beteuert er, «es geht mir um ein ethisches Anliegen.»

Was hat er nicht alles versucht. Er hat Angela Merkel geschrieben, er nahm Leute ins Gebet, die vor der Uno-Versammlung zur Ernährung sprachen, er kochte in der SRF-Sendung «Mini Chuchi, dini Chuchi» (natürlich mit Okara und natürlich gewann er).

Nestlé machte ihm Hoffnung

Er liess seine Beziehungen spielen, bewirtete Etienne Jornod, den Präsidenten der NZZ-Mediengruppe, der ihm dann tatsächlich den Hauptgewinn vermittelte: Nestlé-Boss Mark Schneider. Also fuhr Wüthrich nach Zürich, um dem mächtigsten Menschen der Lebensmittelindustrie die volle Ladung Okara zu verabreichen – Vorspeise, Hauptgang, Dessert: alles aus «Abfallware».

Und er steckte dem Manager noch einen selbst gemachten Riegel für den Heimweg zu. Der Mann sei begeistert gewesen. Monate später habe er ausrichten lassen, man sei dran.

Und dann: Funkstille. Null Fortschritt. Da fragt man sich schon irgendwie nach dem Haken an der Sache.

Hochwertiges Lebensmittels als Tierfutter

Frutigen BE, in einem Tal neben dem Diemtigtal, in der «Tofurei» der Familie Klopfenstein, die Tofu und Seitan (ein Lebensmittel aus Weizeneiweiss) für Reformhäuser und die Gastronomie herstellt. Hier begann Wüthrichs Obsession. Er sah das Okara, liess es im Labor analysieren, nahm zwei Kilo mit nach Hause und kochte seiner Frau daraus einen Viergänger.

Auch Samuel Klopfenstein von Futur Naturprodukte betont das Potenzial des «hochwertigen Lebensmittels», das durchaus Mehl ersetzen könne. Zu viel davon, was eigentlich in die menschliche Nahrungskette gehöre, lande im Tierfutter.

Aus 100 Kilo trockenen Sojabohnen macht Tofumeister Klopfenstein rund 200 Kilo Tofu und rund 100 Kilo Okara. Was soll er machen? Die Nachfrage ist überschaubar, nur Insider fragen danach. Höchstens 20 Kilo Okara verkauft er in der Woche.

In der gleichen Zeit verfüttert er eine Tonne Okara an die Kühe auf dem Bauernhof seines Bruders – der liegt gleich gegenüber. Und dank Eiweiss sorgt das immerhin für reichlich Milch.

Die grossen Player steigen langsam ein

Ein Problem nebst der fehlenden Bekanntheit ist die Haltbarkeit, denn Okara ist feucht, man muss es pasteurisieren und trocknen, wenn es im grossen Stil verarbeitet werden soll. Allerdings ist das Problem nicht unlösbar, Okara trocknet schneller als Milch, die etwa Nestlé in rauen Mengen zu Pulver verarbeitet.

Was also meinen die grossen Player? Nestlé sagt geheimniskrämerisch, man experimentiere mit Okara, habe aber gerade nichts für SonntagsBlick und die Öffentlichkeit zu kommunizieren. Coop, 250 Tonnen Okara-Abfall im Jahr, vor allem für Biogas, will auch bald mit einer Neuigkeit kommen. Die Migros nennt keine Zahlen und spricht von einzelnen Produkten sowie einem Rest, der zu Biogas werde.

Okara kann als Weizenersatz verwendet werden

«Ich bin wohl einfach der Zeit voraus», klagt Wüthrich in seiner Küche. Wie damals, vor vielen Jahren, als er mit seinem Randen-Ketchup von einer Jury zerzaust wurde. Heute wirbt jeder Spitzenkoch mit der Roten Beete.

Wüthrich präsentiert einen goldenen Butterzopf. Die Hälfte des Mehls hat er durch Okara ersetzt: Stichwort Weizen und Weltlage. Die Züpfe ist tatsächlich luftig.

«Es geht uns zu gut. Solange wir Filet essen können – warum sollte sich jemand mit Okara begnügen?», stellt er fest. Wenn er Geld hätte, so um die zehn Millionen, würde er in den USA eine Okara-Fabrik aufmachen, erklärt er trotzig.

Aber er will sowieso nicht auch noch Geschäftsmann werden. Eigentlich will er nur, dass «die Leute in den Läden nach Okara fragen».

Bis es so weit ist, geht er für seine Mission halt weiter Klinken putzen.

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