Stellen Sie sich vor: Die Behörden planen eine Steuerreform, die auf Sie persönlich zugeschnitten ist – und fragen sogar nach, wie viel Sie in Zukunft an den Fiskus abliefern möchten.
Klingt zu schön, um wahr zu sein? Kommende Woche behandelt der Ständerat das Bundesgesetz über die Tonnagesteuer auf Seeschiffen. Und bei dieser Vorlage hat die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) genau das getan. So geht es aus der Korrespondenz zwischen Steuerbeamten und der Lobbyorganisation Swiss Trading & Shipping Association (STSA) hervor, die Blick gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz erhalten hat.
Mit der Tonnagesteuer sollen Schiffseigner, die ihren Sitz in der Schweiz haben, Steuern nicht mehr auf Basis der Gewinne zahlen müssen, sondern gemäss ihrer Transportkapazitäten. Ziel ist eine Entlastung für Reedereien. Oder wie der Bundesrat es formuliert: «ein Förderinstrument für die Seeschifffahrt».
Davon profitieren würde etwa die Mediterranean Shipping Company (MSC), das grösste Schifffahrtsunternehmen der Welt, das seinen Sitz in Genf hat.
Steuerverwaltung verliess sich auf Lobby-Analyse
Bei der Erarbeitung der Vorlage verliess sich die Verwaltung in Bern auf Angaben der Schifffahrtsbranche, wie Blick vorliegende E-Mails und Dokumente belegen. Eine zentrale Rolle spielte dabei Tamara Pfammatter (42), seit rund einem Jahr Direktorin der ESTV.
Im Januar 2019 schrieb Pfammatter, damals noch «Projektleiterin steuerpolitische Geschäfte», an die Schifffahrtslobby: «Auf der Homepage der STSA habe ich gesehen, dass 2017 eine Studie zur Bedeutung der Schifffahrtsindustrie in der Schweiz von Oxford Economics durchgeführt wurde. Diese Studie wäre für unsere Arbeiten zur Tonnage Tax sehr hilfreich. Ich wollte Sie deshalb fragen, ob es möglich ist, dass Sie mir diese Studie zukommen lassen.»
Die ESTV stützte sich also auf eine Analyse, die von der Schifffahrtslobby in Auftrag gegeben worden war – und die Bedeutung der Branche mit Sicherheit eher über- als unterschätzte.
Wieso hat der Bund keine eigene, komplett unabhängige Studie durchgeführt oder in Auftrag gegeben? Ein Sprecher der Steuerverwaltung verteidigt dieses Vorgehen: «Für Gesetzesvorlagen bezieht die ESTV auch verwaltungsexterne Stellen ein, die über relevante und für die Entscheidfindung im politischen Prozess hilfreiche Informationen verfügen.» Soweit auf diese Informationen Bezug genommen wird, werde dies in der Botschaft an das Parlament transparent ausgewiesen.
Wie hoch darf es denn sein?
Einige Monate lang geriet die Erarbeitung der Vorlage ins Stocken. Anfang 2020 jedoch wurde der Kontakt zwischen ETSV und STSA erneut enger. Im März kam es zu einem Treffen, bei dem auch Pfammatter anwesend war – das aber nicht protokolliert wurde.
Kurz darauf, am 18. März 2020, schickte Pfammatter der STSA einen Fragebogen über die «Ausgestaltung» und «Auswirkungen» einer Tonnagesteuer. Darin wollte Pfammatter von den Reedereien der Branche erfahren, welche Aktivitäten für die Tonnage Tax qualifizieren sollen – und erfragte sogar den gewünschten Steuersatz: «Wie hoch müsste die Bemessungsgrundlage unter Einbezug der Höhe der geltenden ordentlichen Steuersätze in der Schweiz sein, damit das Regime international kompetitiv ist?»
Am 2. Juni 2020 trafen die Antworten ein. Zur Frage der «Bemessungsgrundlage» führte die STSA selbstbewusst «die vorgeschlagenen Sätze» pro 100 Nettotonnen (NT) auf: Bis 1000 NT sollte ein Besteuerungssatz von 1.09 Franken pro Tonne gelten, von 1001 bis 10000 NT 0.80 Franken, von 10001 bis 25000 NT 0.52 Franken – und für alles darüber ein Satz von 0.26 Franken.
Was diese Werte in der Praxis bedeuten, ist für Branchenfremde kaum nachvollziehbar. Tatsache ist aber: Die «vorgeschlagenen Sätze» der Schifffahrtslobby landeten eins zu eins in der Gesetzesvorlage, die der Bundesrat 2022 ins Parlament schickte.
Gegenwind aus dem Parlament
Die ESTV rechtfertigt die starke Berücksichtigung der STSA-Vorschläge damit, dass mit der Tonnage Tax ein parlamentarischer Auftrag aus dem Jahr 2016 zugunsten der Schifffahrtsindustrie erfüllt werden sollte. Zugleich weist die Medienstelle darauf hin, dass die Tonnagesteuer in 21 von 27 EU-Mitgliedstaaten bereits heute angewendet wird. «Die Sätze pro Nettoraumzahl wurden seinerzeit auf Grundlage des Medians der EU-Länder festgelegt», so ein Sprecher. Sie beruhten somit auf einem «objektiven Kriterium» und seien im internationalen Vergleich «eingemittet».
Der Nationalrat winkte die Einführung der Tonnagesteuer im Dezember 2022 durch. Nun aber stösst die Vorlage im Ständerat auf Widerstand.
Anfang 2023 hatte sich die Finanzkommission der kleinen Kammer zwar noch für die Tonnage Tax starkgemacht. Die Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK) aber sprach sich vor drei Wochen dagegen aus.
Als Gründe wurden das «Risiko eines Einnahmenverlusts» genannt – und die Frage nach der «Verfassungsmässigkeit» des Vorhabens. Konkret: «Die Kommission möchte nicht eine Steuerermässigung für einen einzelnen Sektor vornehmen.»
Maurer war dafür, Keller-Sutter dagegen
Massgeblichen Anteil an diesem Meinungsumschwung hatte wohl Karin Keller-Sutter (60), die das Finanzdepartement seit 2023 leitet. Im Gegensatz zu ihrem Vorgänger Ueli Maurer (73), unter dessen Ägide die enge Zusammenarbeit mit der Schifffahrtslobby zustande gekommen war, wehrte sich Keller-Sutter stets gegen die Vorlage.
Im Januar 2022 bezeichnete ein ESTV-Mitarbeiter das Bundesamt für Justiz – damals noch unter Führung von Keller-Sutter – gar als «Gegner Nr. 1» der Tonnagesteuer. Das zeigen Dokumente, die das Magazin «Reflekt» publik gemacht hat.
Für Tamara Pfammatter, oberste Steuerbeamtin des Landes, ist das eine delikate Situation: Sie wurde Ende 2022 von Finanzminister Maurer zur ESTV-Direktorin ernannt – wohl nicht zuletzt wegen ihrer Arbeit an der Tonnagesteuer. Ihre jetzige Chefin, Finanzministerin Keller-Sutter, gilt derweil in Bundesbern als grösste Gegnerin der Vorlage.
Die Haltung der mächtigen Finanzministerin ist aber nicht nur für Pfammatter unangenehm. Ihr Widerstand könnte auch dazu führen, dass das Steuergeschenk für die Schifffahrtsindustrie kommende Woche vom Ständerat versenkt wird.