Auf einen Blick
Von Berufes wegen müsste Jan-Egbert Sturm (55) ein Optimist sein – so wie die meisten Prognostiker. Doch der Blick in die Kristallkugel ist nach vor getrübt. «Wir sind pessimistischer geworden, aber es gäbe durchaus auch Grund zu einem gewissen Optimismus», erklärt der Leiter der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich.
Vor allem deshalb, weil sich die Schweizer Wirtschaft einmal mehr robuster präsentiert als diejenige in den Nachbarländern. Selbst die miese Stimmung in Deutschland und den starken Franken stecken wir fast problemlos weg – auch weil das Geld bei uns lockerer im Portemonnaie steckt als anderswo.
Sollte die Weltwirtschaft tatsächlich in diesem Jahr – so wie von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) prognostiziert – etwas besser wachsen, die Schweiz stünde bereit.
Schweizer Wirtschaft nimmt Fahrt auf
Denn die Industrie kann im Moment ihre Produktionskapazitäten gar nicht voll ausschöpfen. Schlicht, weil die Nachfrage aus dem Ausland fehlt. «Eigentlich müssten wir jetzt einen Boom sehen, bestenfalls erreichen wir eine gewisse Normalisierung der Wachstumsraten», dämpft Sturm etwas die Erwartungen.
Die KOF hat ihre Prognosen deshalb leicht nach unten korrigiert: In diesem Jahr wird die Schweizer Wirtschaft mit 1,1 Prozent wachsen, 2025 mit 1,6 Prozent und 2026 mit 1,7 Prozent. Was für die Schweiz schon wieder ganz anständig wäre.
Geopolitische Risiken
Die Welt ist in Aufruhr, das ist für die Weltwirtschaft wenig gedeihlich. Der Ukraine-Konflikt ist nach wie vor ungelöst, der Nahe Osten steht kurz vor der Explosion. «Das sorgt für grosse Unsicherheit und senkt die Bereitschaft der Unternehmen, in die Zukunft zu investieren. Das tangiert besonders die Investitionsgüterindustrie», erklärt Sturm.
Das heisst, der Kauf neuer Maschinen wird erst einmal aufgeschoben. Die stark exportorientierten Maschinenbauer in der Schweiz spüren das besonders stark – genauso wie ihre Kollegen in Deutschland, einem der wichtigsten Absatzmärkte für die Schweizer Industrie. Die Folge: Bis in den kommenden Frühling ist kaum mit einem Aufschwung der Exportzahlen zu rechnen.
Wahlen in den USA
Die Schwäche der europäischen Konjunkturlokomotive Deutschland können nicht einmal die USA wettmachen, wo die Wirtschaft im Moment noch ganz anständig brummt. Wichtig wird sein, wer am 5. November die US-Präsidentschaftswahlen gewinnen wird. «Aus europäischer und wirtschaftlicher Sicht wäre ein Sieg von Kamala Harris (59) wünschenswert. Einfach, weil man bei Donald Trump (78) nie so genau weiss, was man wirklich bekommt», sagt Sturm.
Binnenkonsum und Inflation
Wichtigste Stütze der Schweizer Wirtschaft ist und bleibt der Binnenkonsum. «In gewisser Art und Weise leben wir in der Schweiz schon auf einer Insel. All die Krisen rundherum belasten uns etwas weniger», erklärt der KOF-Leiter. So etwa auch die Teuerung: «Die Inflation in der Schweiz ist besiegt.» Die Inflationsrate dürfte sich gemäss KOF in den kommenden Jahren bei 0,7 Prozent einpendeln. Davon können andere Länder nur träumen.
Tiefes Zinsniveau
Das lässt Raum für weitere Zinssenkungen durch die Nationalbank. Die nächste am Donnerstag, die Übernächste noch im Dezember, glaubt Sturm. Dann ist aber Schluss: «Die SNB sollte sich noch etwas Pulver aufbewahren, sollte es doch zu einer grossen Krise der Weltwirtschaft kommen, wovon ich aber derzeit nicht ausgehe.»
Löhne und Arbeitsmarkt
Erfreulich: Weil die Löhne in der Schweiz steigen, die Teuerung aber tief ist, bleibt vielen real mehr Geld im Portemonnaie. Was wiederum gut für die Konsumentenstimmung und damit den Binnenkonsum ist. Einzig der Arbeitsmarkt muss uns etwas Sorge machen: «Der Aufbau neuer Stellen wird abflachen, die Arbeitslosenquote leicht ansteigen», glaubt Sturm.