Ökonom Aymo Brunetti
«Die Reallöhne sollten bereits in diesem Jahr wieder steigen»

Alle warten, dass die Wirtschaft wieder richtig Schwung aufnimmt und die Lohnverluste der letzten Jahre aufgeholt werden. Doch aus der Wirtschaft kommen fast täglich neue Schreckensmeldungen. Ein Problem? Ökonom Aymo Brunetti liefert die Antworten.
Publiziert: 19.08.2024 um 00:03 Uhr
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Aktualisiert: 19.08.2024 um 16:48 Uhr
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Ökonom Aymo Brunetti blickt trotz aller Krisen positiv auf die Schweizer Wirtschaft.
Foto: Peter Mosimann
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Martin SchmidtRedaktor Wirtschaft

Schweizer Arbeitskräfte haben wegen der Inflation immer weniger Geld im Portemonnaie. Die Lohnerhöhungen fielen krisenbedingt im Durchschnitt tiefer aus als die Teuerung. Und schon wieder überschlagen sich die wirtschaftlichen Negativschlagzeilen.

Ökonom Aymo Brunetti (61) gibt im Interview mit Blick Grund zur Hoffnung. Er warnt aber auch vor dem Elefanten im Raum, den riesigen Staatsschulden vieler Industrieländer.

Blick: Sind sie ein Optimist?
Aymo Brunetti: Ja. Gerade mit Blick auf die Schweizer Wirtschaft bin ich grundsätzlich optimistisch. Wir hatten in den letzten Jahren zahlreiche Krisen zu bewältigen. Sei es die Finanzkrise, Eurokrise, Frankenaufwertung, die Pandemie oder die Inflation. Und die Schweiz ist durch all diese sehr unterschiedlichen Krisen relativ gut durchgekommen.

Nun haben wir die Angst vor einer Rezession in den USA oder vor einer Eskalation im Nahen Osten und den nicht enden wollenden Ukraine-Krieg: Die geopolitischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten nehmen kein Ende. Stimmt Sie das für die Zukunft etwas pessimistischer?
Solche Unsicherheiten hatten wir in der Vergangenheit immer. Natürlich sind die Rezessionsängste etwas gewachsen. Zudem war man nach dem Inflationsschub wohl etwas zu optimistisch. Die Zentralbanken haben die Zinsen zu Recht stark erhöht, und man hoffte, dass die Wirtschaft dennoch sanft landet.

Eine Fehleinschätzung?
In der Vergangenheit folgte auf Zinserhöhungen im Kampf gegen deutlich zu hohe Inflation fast immer eine Rezession. Jetzt haben sich die Aussichten für die US-Wirtschaft tatsächlich etwas eingetrübt. Falls sich die Situation aber nicht weiter verschlechtert, könnten wir immer noch von einer ziemlich sanften Landung sprechen. Und die Schweiz kam mit einer deutlich tieferen Inflation, tieferen Zinserhöhungen und ohne Rezessionsängste einmal mehr relativ glimpflich davon.

Ökonomenstimme mit Einfluss

Aymo Brunetti ist seit 2012 Professor am Departement Volkswirtschaftslehre der Universität Bern. Zuvor war er neun Jahre lang Leiter der Direktion für Wirtschaftspolitik im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Brunetti zählt zu den einflussreichsten Ökonomen der Schweiz und taucht seit Jahren regelmässig auf den vorderen Rängen des NZZ-Ökonomierankings auf. Er lebt mit seiner Familie in Biel-Benken BL.

Aymo Brunetti ist seit 2012 Professor am Departement Volkswirtschaftslehre der Universität Bern. Zuvor war er neun Jahre lang Leiter der Direktion für Wirtschaftspolitik im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Brunetti zählt zu den einflussreichsten Ökonomen der Schweiz und taucht seit Jahren regelmässig auf den vorderen Rängen des NZZ-Ökonomierankings auf. Er lebt mit seiner Familie in Biel-Benken BL.

Ist denn das jüngste Börsenbeben ein Grund zur Beunruhigung?
Noch nicht wirklich. Nach einem langen Höhenflug gab es jetzt eine deutliche Korrektur nach unten. So etwas ist immer möglich und für sich alleine noch kein Grund für Rezessionsängste; vor allem, falls sich die Situation rasch beruhigt, was nach heutigem Stand der Fall zu sein scheint. Erst eine lange anhaltende Börsenbaisse, verbunden mit echten realen Schocks, würde mich wirklich beunruhigen.

Trotzdem bleibt beim Schweizer Mittelstand real immer weniger im Portemonnaie. Müssen sich die Leute darauf einstellen, künftig den Gürtel dauerhaft enger zu schnallen?
Vorübergehend sinkende Reallöhne sind normal, wenn die Inflation innert kurzer Zeit deutlich ansteigt. Dann hinken die Löhne typischerweise hinterher. Nach aktuellem Stand sollten die Reallöhne in diesem Jahr aber bereits wieder steigen. Gibt es keine grösseren geopolitische oder andere Schocks, sollte sich auch das Wirtschaftswachstum und damit die Reallohnentwicklung mittelfristig erholen.

Strom, Mieten und Krankenkassenprämien sind deutlich teurer geworden und steigen weiter an. Immobilien werden immer unerschwinglicher. Da bleibt doch immer weniger.
Nicht unbedingt: Die Kaufkraft in der Schweiz ist in den letzten 20 Jahren gestiegen. Die Menschen können sich also grundsätzlich mehr leisten – und das trotz all der Krisen. Trotzdem können einzelne Preise so stark steigen, dass wir uns auch bei wachsendem Einkommen weniger von gewissen Gütern leisten können oder wollen, etwa beim Wohnen. Insgesamt werden wir aber reicher, wuchs doch die Schweizer Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten im Schnitt knapp zwei Prozent pro Jahr. Selbst das Pro-Kopf-Wachstum betrug etwa ein Prozent.

Also alles in Butter?
Dass das Wachstum auch in Zukunft so hoch sein wird, ist nicht garantiert. Das hängt stark davon ab, ob es uns weiterhin gelingt, so attraktive Rahmenbedingungen zu bieten wie bisher. Und hier gibt es schon Herausforderungen, wie etwa den Marktzugang in Europa oder die Finanzierung der Altersvorsorge. Gerade die demografische Entwicklung wird – wegen der Pensionswelle der Babyboomer und damit dem Rückgang der Arbeitskräfte – das Wachstum tendenziell eher reduzieren. Es gilt also, sich nicht auf den Lorbeeren der vergangenen Krisenfestigkeit auszuruhen.

Derzeit wächst die Schweiz nur noch langsam. Rechnen Sie bald mit einem Aufschwung?
Wenn es keine grösseren zusätzlichen Schocks gibt, dann dürfte sich das Schweizer Wirtschaftswachstum beschleunigen. Während die Entwicklung im Dienstleistungsbereich sich positiv entwickelt, hat die Industrie in der Schweiz eine längere Stagnationsphase hinter sich. Es ist damit zu rechnen, dass sich die Lage hier in naher Zukunft verbessern dürfte.

In China ist die Stimmung bei den Konsumenten eingetrübt. In den USA flacht sie ab. Vergeht bald auch der Schweizer Bevölkerung die Lust aufs Geldausgeben?
Die Menschen richten ihren Konsum weniger auf kurzfristige Schwankungen und mehr auf die längerfristige Einkommenssituation aus. Ausser bei einem starken und aussergewöhnlichen Schock wie bei Covid ist der Konsum in der Regel stark stabilisierend. Sobald die Pandemie vorbei war, hat sich der Konsum denn auch rasch erholt und wächst aktuell weiter.

Könnten die immensen Staatsschulden in vielen Industrienationen einen solchen Schock auslösen?
Das ist ein grosses Thema, das von vielen Politikerinnen und Politikern lange Zeit komplett ignoriert wurde. 15 Jahre lang waren die Zinsen sehr tief und man hatte das Gefühl, die Staaten können sich gratis verschulden. So gingen die Schulden in vielen Ländern bei jeder Krise steil hoch. Und haben auch zugenommen, wenn die Wirtschaft gut lief. Jetzt, da die Zinsen angestiegen sind, realisieren die Regierungen, dass die Zinslast deutlich steigt und sie das Schuldenproblem angehen müssten.

Schränkt das den Handlungsspielraum für Konjunkturprogramme ein?
Ist ein Land stark verschuldet, ist es in Krisensituation viel schwieriger, darauf etwa mit einer Erhöhung Staatsausgaben zu reagieren. Und das Schuldenproblem wird weiter zunehmen, da die Staaten Kredite, die auslaufen, zu höheren Zinsen ersetzen müssen. Geld, das dann für Investitionen fehlt.

Die USA sind deutlich stärker verschuldet als ihre jährliche Wirtschaftsleistung. Vielen europäischen Ländern geht es ähnlich.
Dieser Schuldenberg bereitet schon Sorgen. Die Möglichkeit der EZB, die Kosten der Verschuldung von Mitgliedstaaten zu reduzieren, ist sehr heikel. Die hoch verschuldeten Staaten müssten eigentlich sparen. Können sie sich vergünstigt verschulden, fällt ein Teil dieses Spardrucks weg.

Droht die Schuldenblase zu platzen?
Ich gehe nicht davon aus, dass die Situation in naher Zukunft eskaliert. Diese Staatsschulden werden uns vor allem längerfristig beschäftigen. Denn auch die Schweizer Wirtschaft wird es spüren, wenn die anderen Länder gezwungenermassen den Gürtel enger schnallen und Schulden abbauen müssen.

So ein massiver Schuldenabbau ist politisch äusserst unpopulär. Wie soll das gelingen?
Am besten würden diese Länder eine Schuldenbremse einführen, wie man es aus der Schweiz kennt. Die Schweiz hatte Anfang der 1990er-Jahre eine tiefe Schuldenquote. Dann kam die Immobilienkrise und die Staatsschulden verdoppelten sich innerhalb kurzer Zeit. Schliesslich sprach sich die Bevölkerung mit über 80 Prozent in einer Volksabstimmung für die Einführung einer Schuldenbremse aus. Und seither sind die Staatsschulden im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung in der Schweiz rückläufig – völlig anders als in beinahe allen anderen Ländern. Wir befinden uns dank dieser zentralen wirtschaftspolitischen Institution heute in einer im internationalen Vergleich besseren Schuldensituation.

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