KOF-Direktor Jan-Egbert Sturm im grossen Interview
«Die Löhne in der Schweiz werden steigen»

Die Schweiz ächzt unter explodierenden Krankenkassenprämien, höheren Mieten und der Teuerung. Alles nur Gejammer? Professor Jan-Egbert Sturm von der Konjunkturforschungsstelle KOF sagt, dass wir unter dem Strich sogar mehr Geld im Portemonnaie haben.
Publiziert: 19.10.2024 um 14:22 Uhr
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Aktualisiert: 19.10.2024 um 18:06 Uhr
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Lichtstreifen am Horizont: Professor Jan-Egbert Sturm erklärt, dass die Nominallöhne stärker steigen als die Konsumentenpreise.
Foto: Siggi Bucher

Auf einen Blick

  • «Ein gewisses Mass an Inflation ist wie Öl für den Motor der Wirtschaft»
  • «Konkret rechnen wir mit einem Reallohnanstieg von 0,9 Prozent»
  • Nominallöhne steigen 2025 um 1,7 Prozent
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
Max Fischer
Schweizer Illustrierte

Rundum stöhnen die Menschen in der Schweiz über steigende Preise. Allein für die Prämien der Krankenkassen hat der Bund einen Anstieg von durchschnittlich sechs Prozent errechnet. Trotzdem prognostiziert die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich für die nächsten beiden Jahre nur eine Teuerung von 0,7 Prozent.

Jan-Egbert Sturm, der Vergleichsdienst Comparis veröffentlicht einen gefühlten Teuerungsindex. Der ist viel höher als die KOF-Angabe. Ist er nicht viel ehrlicher?
Überhaupt nicht. Er ist eben gefühlt.

Was ist daran falsch?
Die Inflation ist in den vergangenen Jahren wegen der Energiekosten – Gas, Öl und so weiter – relativ stark gestiegen. Ist man zum Beispiel viel mit dem Auto unterwegs und fährt regelmässig an Tankstellen vorbei, sieht man ständig, was dort mit den Preisen passiert. Das nehmen wir sehr stark und bewusst wahr. Im Gegensatz zu einem Kühlschrank, den wir alle fünf oder zehn Jahre kaufen und der eine andere Preisdynamik hat.

Aber mal ehrlich: Der Medianlohn in der Schweiz liegt bei 6600 Franken. Eine Viereinhalbzimmerwohnung in einer Stadt wie Zürich kostet ab 3500 Franken. Wie soll das gehen?
Es geht darum, wie viel wir für den Konsum ausgeben können und wollen. Das gilt für die Miete und andere Dienstleistungen. In der Tat ist es teurer, in einer Grossstadt zu leben. Auf dem Land kann man sich für das gleiche Geld wahrscheinlich eine viel grössere Wohnung leisten.

Einspruch: Die Bevölkerung ist auch überzeugt, dass die Lebensmittelpreise zu hoch sind. Deshalb läuft der Einkaufstourismus nach Deutschland wie geschmiert!
Die Schweiz ist seit langem eine Hochpreisinsel. Tatsächlich sind die Lebensmittelpreise in Deutschland in den vergangenen Jahren deutlich stärker gestiegen als in der Schweiz! Aber Sie haben recht. Auch der Schweizer Franken hat sich wieder etwas aufgewertet, er ist gegenüber dem Euro teurer geworden. Das macht aus Schweizer Sicht die Produkte im Euroraum billiger. Und unter dem Strich lohnt es sich für viele, die Nachbarländer zu besuchen.

Für die meisten Menschen ist die Teuerung auch deshalb so wichtig, weil sie für die Lohnverhandlungen oder die Höhe der AHV- oder IV-Renten entscheidend ist. Sind das für Sie nur ökonomische Rechenspiele – oder ist Ihnen das bewusst?
Ja, natürlich. Wir schauen uns die Werte für die ganze Schweiz an, und auch wenn sie nie genau das widerspiegeln, was bei einer einzelnen Person passiert, sind sie doch sehr aussagekräftig. Und wir sehen tatsächlich, dass diese Teuerung der letzten Jahre jetzt in die Löhne einfliesst.

Also die Löhne steigen, habe ich Sie richtig verstanden?
Konkret rechnen wir mit einem Reallohnanstieg von 0,9 Prozent in diesem und einem Prozent im nächsten Jahr. Das heisst: Die Nominallöhne steigen stärker als die Konsumentenpreise.

Artikel aus der «Schweizer Illustrierten»

Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.

Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.

Etwas weniger Fachchinesisch! Wie viel hat der Einzelne mehr auf seinem Konto?
Die Nominallöhne steigen 2025 um 1,7 Prozent. Minus die prognostizierte Teuerung von 0,7 Prozent gibt das einen Reallohnanstieg von einem Prozent.

Nochmals zu den Krankenkassenprämien. Da ist die Teuerung viel höher!
Die Gesundheitskosten haben im Konsumentenpreisindex derzeit ein Gewicht von mehr als 15 Prozent. So befinden sich beispielsweise die Preise für Spitalaufenthalte und Medikamente im Warenkorb. Die Krankenkassenprämien widerspiegeln nicht nur allfällige Preisänderungen, sondern auch die Ausweitung der Menge: Wir nehmen immer mehr Gesundheitsleistungen in Anspruch. Mittel- bis langfristig sollen die Prämien den Kosten entsprechen, die wir verursachen. Im Gegensatz dazu spiegeln die Konsumentenpreise nur das wider, was der Einzelne im Durchschnitt für eine bestimmte Menge an Gesundheit bezahlt.

Die Nationalbank muss für Preisstabilität sorgen. Sie hat sich für eine Bandbreite von null bis zwei Prozent Inflation entschieden. Weshalb gerade so viel?
Einerseits wollen wir stabile Preise. Wir haben aber auch festgestellt, dass eine Nullinflation auf Dauer nicht unbedingt gesund ist. Dafür gibt es verschiedene Argumente, zum Beispiel die Lohnstarre. Die Löhne werden in der Regel nicht nach unten angepasst, auch wenn dies für ein bestimmtes Unternehmen oder einen bestimmten Sektor manchmal notwendig wäre. Ein gewisses Mass an Inflation ist wie Öl für den Motor der Wirtschaft. Aber zu viel Öl bringt den Motor zum Stottern, und das wollen wir auf keinen Fall. Deshalb ist der Bereich zwischen null und zwei Prozent für die Schweiz eine gesunde Inflationsrate.

Ein wichtiger Indikator für den Fitnesszustand eines Landes ist das Bruttoinlandprodukt BIP. Ist das nicht eine rein theoretische Grösse? Ein Finanzdienstleister hat eine fünfmal so hohe Wertschöpfung wie ein Bauer. Aber wir können ja nicht nur Finanzleute beschäftigen. Wir brauchen Bauern, Putzleute, Verkäuferinnen.
Ja, es ist richtig, dass wir im Alltag die unterschiedlichsten Berufsgruppen brauchen. Aber am Ende des Tages wollen wir auch wissen, wie viel in einer Volkswirtschaft insgesamt produziert wird und was das für den Durchschnittsbürger bedeutet. Das beste Mass dafür ist immer noch das Bruttoinlandprodukt und daraus abgeleitet das BIP pro Kopf. Es geht auch darum, wie viel wir insgesamt produzieren, und damit auch, wie viel wir insgesamt oder durchschnittlich ausgeben können. Am Ende des Tages müssen wir etwas produziert haben, bevor wir es ausgeben können.

Wir werden immer älter. Wie wollen wir die Renten sichern?
Es gehen mehr Menschen in den Ruhestand, als junge Menschen in den Arbeitsmarkt eintreten. Dieses Ungleichgewicht ist ein Problem moderner Gesellschaften. Und die Art und Weise, wie unsere Altersvorsorge finanziert wird, macht es zu einer Herausforderung. Denn auch in der Schweiz erfolgt ein Teil der Finanzierung über das Umlageverfahren: Die Erwerbstätigen müssen für die Rentner aufkommen. Wenn sich das Verhältnis zwischen diesen beiden Gruppen verschiebt, wird es schwierig. Dann müssen entweder die Rentnerinnen und Rentner zurückstecken, oder die Erwerbstätigen müssen früher oder später etwas mehr leisten.

Was bringt die Zuwanderung?
Wir haben in den letzten Jahren gesehen, dass sie ein ausgleichender Faktor ist. Sie allein kann das Problem allerdings nicht lösen.

Kritiker monieren, wir würden mit der Zuwanderung nur Kosten für öffentlichen Verkehr, Schulen, Wohnen und Sozialwesen importieren.
Mit Ausnahme der Asylsuchenden sind die meisten Personen, die in die Schweiz einwandern, zwischen 30 und 40 Jahre alt, verfügen über eine Ausbildung und haben bereits erste Schritte im Berufsleben gemacht. Sie stellen eine gute Ergänzung zur älteren Generation dar, die in den Ruhestand tritt.

Jan-Egbert Sturm: Der 55-jährige Ökonom ist verheiratet und Vater zweier Kinder. Seit 2005 ist er ordentlicher Professor für Angewandte Wirtschaftsforschung am Departement für Management, Technologie und Ökonomie der ETH Zürich und Direktor der KOF Konjunkturforschungsstelle. Der Niederländer war Leiter der Expertengruppe Wirtschaft der Covid-19-Taskforce des Bundes. 

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