Jörg Blunschi blickt auf seine Zeit als Migros-Zürich-Chef zurück
«Viele Zuwanderer verstehen nicht, warum wir keinen Alkohol verkaufen»

Der langjährige Migros-Zürich-Chef Jörg Blunschi wechselt bald zur Migros Aare. Im Interview spricht er über Ausland-Expansionen, den Alkohol-Entscheid und das Aussterben der Coop- und Migros-Kinder.
Publiziert: 11.01.2024 um 09:16 Uhr
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Aktualisiert: 16.01.2024 um 14:58 Uhr
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Jörg Blunschi, Geschäftsleiter der Genossenschaft Migros Zürich: «Wenn ich zehn Jahre vorausschaue, sehe ich Tegut bei einem Umsatz von 2 Milliarden Euro.»
Foto: PD
Andreas Güntert
Handelszeitung

Die Migros im Ausland – eine lange und oft qualvolle Geschichte. Vor allem das berühmt-berüchtigte Österreich-Loch, das durch eine verunglückte Auslandexpansion in den 1990er-Jahren einen Verlust von 300 Millionen Franken einbrachte, liess den orangen Riesen lange vor weiteren Auslandfeldzügen zurückschrecken.

Jörg Blunschi, seit 2010 Chef der Genossenschaft Migros Zürich (GMZ), wagte einen doppelten Neuanfang. 2012 startete er die Expansion ins europäische Fitness-Geschäft, 2013 übernahm die Migros Zürich die deutsche Lebensmittelhändlerin Tegut. Zwei grosse Feldzüge – doch nur einer glückte. Im Interview spricht der langjährige Genossenschaftsleiter über Gewinne und Verluste, über Coop- und Migros-Kinder – und warum er trotz Frühpensionierung noch einmal einen Neubeginn innerhalb der Migros wagt.

Artikel aus der «Handelszeitung»

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Steckt in jeder Migros gleich viel Migros drin?
Jörg Blunschi:
Wie meinen Sie das?

Von zehn Migros-Genossenschaften kennen Sie drei sehr gut. Sie waren in der Geschäftsleitung der Migros Basel, sind seit 14 Jahren Chef der Migros Zürich und werden bei der Migros Aare bald Präsident der Verwaltung. Ist das orange Blut überall gleich dick?
Bezüglich der Gene sind die drei Genossenschaften sehr vergleichbar, doch die Herausforderungen sind komplett unterschiedlich.

Wie meinen Sie das?
Von den zehn Genossenschaften sind Basel, Genf und Zürich städtisch dominiert, die anderen sieben eher ländlich geprägt. Wir haben also im Unternehmen weniger einen Röstigraben, sondern eher eine Aufteilung zwischen Stadt und Land.

Wie macht sich das konkret bemerkbar?
Zum Beispiel bei der Aktions-Politik: Ein rabattiertes Zehnerpack UHT-Milch läuft auf dem Land viel besser als in der Stadt. Weil wir in der Stadt kaum Parkplätze anbieten können und urbane Kunden sehr viel öfter in Einzelhaushalten leben. Bio läuft in Städten generell besser, auch wegen des höheren Anteils ausländischer Kunden. Weil jeder weiss, was Bio ist. Auf dem Land ist unsere Linie mit regionalen Produkten – Stichwort «Aus der Region – Für die Region» – viel stärker. Was natürlich auch damit zusammenhängt, dass es in Stadtnähe weniger Bauernbetriebe gibt als auf dem Land. Wie unterschiedlich die Konsumentinnen und Konsumenten auf dem Land und in der Stadt ticken, ist mir kurz vor Weihnachten wieder aufgefallen. Bei einem zweitätigen persönlichen Anpacken an der Front in einem Basler Alnatura-Supermarkt.

Sie sassen an der Kasse?
Nein, ich habe Gestelle eingeräumt, Bestände gepflegt und Produktauskünfte gegeben.

Will im Laden denn irgendjemand Auskunft?
Und wie! Im Basler Alnatura-Laden bin ich einer ganz anderen Kundschaft als auf dem Land begegnet: 20 bis 25 Prozent der Leute sprachen Englisch, ein grosser Teil der Leute gab sich extrem wissensbegierig. Wo Menschen anderswo in grossen Migros-Läden autonom ihren Wocheneinkauf erledigen, wollten die Leute in Basel wissen: vegan oder vegetarisch? Welche Zusatzstoffe, welche Produktionsbedingungen, sicher keine Kinderarbeit drin im Produkt? Praktisch jeder zweite Kunde sprach mich an.

Basel brachte Sie ins Schwitzen.
Ja – aber nicht nur wegen der Auskünfte. Das viele Schachtel-Öffnen hinterliess nach zwei Tagen dann seine Spuren. Ich holte mir fast schon einen Art Tennis-Arm.

Nun wechseln Sie nach 14 Jahren an der operativen Spitze der Migros Zürich zur Migros Aare, als Präsident der Verwaltung. Was wollen Sie dort erreichen?
Ich stütze dort die Geschäftsleitung mit den üblichen Gouvernance-Aufgaben und mit klarem Fokus aufs Kerngeschäft. Auf jeden Fall gehe ich nicht nach Bern, um dort irgendetwas zu transformieren.

Keine Auslandeinkäufe geplant?
Ganz sicher nicht.

Sie werden vom Zürcher Genossenschaftsfürsten zum strategischen Sparringspartner des Berner Genossenschaftsfürsten?
Wenn Sie bei diesem für mich suspekten Titel bleiben wollen, kann man das so sagen.

Und dabei dachte alle Migros-Welt, Sie wollten sich per Mitte 2024 frühpensionieren lassen.
Das ist und bleibt so. In Bern werde ich kein Migros-Angestellter mehr sein, sondern das Präsidium in einem beschränkten Pensum ausüben.

Sie hätten in Zürich «den Bettel hingeschmissen» hiess es, auch aus Verärgerung darüber, dass die Migros Zürich bei der neuen Supermarkt-Einheit der Mutterfirma keine prägende Rolle spiele.
Das ist komplett falsch. Der Hauptgrund für meine vorzeitige Pensionierung bei der Migros liegt darin, dass unsere Fünfjahresstrategieperiode Ende 2024 endet. Da macht es sehr viel Sinn, dass ich ein Jahr früher zurücktrete, damit mein Nachfolger die nächste Periode mit der eigenen Handschrift gestalten kann.

Aber warum der Wechsel von Zürich nach Bern?
Das wurde erst nach meinem Entscheid zum Abschied bei der Migros Zürich aktuell. In Bern suchte man einen Präsidenten mit Retail-Kenntnissen. Diese Herausforderung habe ich nach reiflicher Überlegung angenommen.

Manche brachten Ihren verfrühten Abschied bei der Migros Zürich auch in Zusammenhang mit hohen Verlusten bei der Migros Zürich.
Falsch. Das Jahr 2021 stand noch voll im Zeichen von Corona. Die Migros-Zürich-Gruppe mit ihren bedeutenden Standbeinen in der Gastronomie mit Migros-Restaurants und der Ospena sowie im Bereich Fitness mit den Fitnessparks, Activ Fitness sowie Aciso in Deutschland war von den behördlichen Einschränkungen überdurchschnittlich stark betroffen. Insbesondere in den Fitnesscentern hatten wir über Monate keine Einnahmen und auch in der Gastronomie mussten hohe Verluste verkraftet werden. Diese Aspekte erklären einen grossen Teil des Minus der GMZ-Gruppe in Höhe von 70 Millionen Franken in jenem Jahr.

2021 trennten Sie sich vom europäischen Fitnessgeschäft. Mit diesem europäischen Abenteuer, schrieb die NZZ, habe die Migros insgesamt mehr als 150 Millionen Franken verbrannt. Korrekt?
Das stimmt so nicht.

In welcher Höhe lag der Verlust aus dem europäischen Fitnessgeschäft?
Zwar mussten wir in den Büchern tatsächlich einen Verlust von über 100 Millionen Euro ausweisen. Neben den hohen Verlusten aus Corona kam jedoch erschwerend hinzu, dass wir aufgrund unserer Unternehmensstruktur keinen einzigen Euro an Covid-Entschädigungen erhielten. Dies wurde in der damaligen Berichterstattung falsch dargestellt.

Jörg Blunschi: Von Zürich nach Bern

Die Genossenschaft Innerhalb der zehn Migros-Genossenschaften ist jene von Zürich die umsatzstärkste. Auch deshalb, weil sie mit der Lebensmittelhändlerin Tegut ein grosses Auslandgeschäft hat. 2023 erzielte die Migros Zürich einen Umsatz von 4,154 Milliarden Franken, ein Plus von 2,9 Prozent gegenüber 2022.

Der Chef Jörg Blunschi (62) arbeitet seit 27 Jahren für die Migros, seit 2010 als Chef des Migros Zürich. Per Juli 2024 wechselt der einstige Banklehrling und spätere Betriebsökonom zur Migros Aare, wo er Präsident der Verwaltung wird, was der Position eines VR-Präsidenten gleichkommt.

Die Genossenschaft Innerhalb der zehn Migros-Genossenschaften ist jene von Zürich die umsatzstärkste. Auch deshalb, weil sie mit der Lebensmittelhändlerin Tegut ein grosses Auslandgeschäft hat. 2023 erzielte die Migros Zürich einen Umsatz von 4,154 Milliarden Franken, ein Plus von 2,9 Prozent gegenüber 2022.

Der Chef Jörg Blunschi (62) arbeitet seit 27 Jahren für die Migros, seit 2010 als Chef des Migros Zürich. Per Juli 2024 wechselt der einstige Banklehrling und spätere Betriebsökonom zur Migros Aare, wo er Präsident der Verwaltung wird, was der Position eines VR-Präsidenten gleichkommt.

Sie haben bei der Migros Zürich die Ausland-Schockstarre überwunden. Was bleibt stärker in Erinnerung: Der Erfolg mit der Tegut-Übernahme oder der Frust, dass Sie die Fitness-Expansion abbrechen mussten?
Rein strategisch bereue ich nichts. Der Tegut-Entscheid war zu 100 Prozent richtig. Bei der Fitness-Expansion unterschätzten wir möglicherweise den langen Weg zum Erfolg, wollten zu früh zu viel. Und als wir endlich gut aufgestellt waren, kam Corona. Danach wäre es schlicht zu teuer geworden, alles wieder in Schwung zu bringen. Dieses zusätzliche Geld wollten wir nicht mehr ausgeben. Wichtig waren uns bei allen Auslandaktivitäten immer zwei Dinge. Erstens: Keine Kompromisse im Schweizer Kerngeschäft, dieses sollte durch die Expansion im Ausland nie tangiert werden. Zweitens dass wir das Eigenkapital der Migros Zürich stabil halten können, beziehungsweise eine Untergrenze von 50 Prozent nicht unterschreiten würden. Beides ist uns problemlos gelungen. Das Eigenkapital ist nie unter 70 Prozent gesunken.

Der neue Migros-Chef Mario Irminger kündigte kürzlich für die gesamte Gruppe ein «wesentlich besseres Resultat» für das Geschäftsjahr 2023 an. Wie sieht das bei der Migros Zürich aus, die 2022 mit 30 Millionen Franken Verlust abgeschlossen hatte?
Wer mehrere Tochterfirmen hat, der weiss, dass es selten Jahre gibt, in denen es allen Sprösslingen gut läuft. Bei uns war es 2023 so, dass – von Tegut abgesehen – alle Sprösslinge gut performten. Tegut hat in den Jahren zwischen 2018 und 2022 Gewinne von insgesamt rund 40 Millionen Euro erzielt. 2023 litt Tegut stark unter schlechter Konsumentenstimmung und erstarkenden Discountern und schrieb rot. Die Aussichten für Tegut sind mittelfristig gut. Alle anderen Unternehmen – in den Bereichen Detailhandel, Fitness und Gastronomie – machten viel Freude. Unter dem Strich gehe ich davon aus, dass unser Ergebnis 2023 besser als 2022 ausfallen wird. Was mir auch wichtig ist: Alle Unternehmen der Migros Zürich stimmen mit der Migros-Gruppen-Strategie überein.

Wird das Ergebnis besser, weil Sie um Halloween 2023 herum noch ein paar Immobilien verkauft haben?
Nein. Ausserhalb der bereits kommunizierten Veräusserung der Freizeitanlage Milandia kam zum Jahresende nichts mehr Neues hinzu.

Was auffällt: Ihr starker Fokus auf das Fitnessgeschäft. Warum eigentlich?
Fitness litt während Corona natürlich besonders stark, aber innerhalb der Migros Zürich wird das ein sehr rentables Geschäftsfeld werden. Wir haben jetzt schon leicht mehr Mitglieder als noch 2019. Indem wir bei der Migros Zürich das Fitnessgeschäft mehrerer Genossenschaften bündeln, können wir Skaleneffekte nutzen und ein optimales Preis-Leistungs-Verhältnis anbieten.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihrer grössten Auslandbeteiligung Tegut?
Ausserhalb der bestehenden sechs Bundesländer ist aktuell keine weitere Expansion geplant. Wenn ich zehn Jahre vorausschaue, sehe ich Tegut im bestehenden Wirtschaftsgebiet und ohne weitere Übernahmen bei einem Umsatz von 2 Milliarden Euro. Aktuell sind es gut 1,2 Milliarden Euro.

Zurück in die Schweiz: Warum gelingt es der Migros eigentlich im Kerngeschäft nicht, die Umsätze mindestens parallel zur starken Zuwanderung zu steigern?
Weil wir in den vergangenen Jahren nicht alles gut gemacht haben. Was uns gelingt: Wir halten den Preisvorsprung zu Coop. Und trotzdem wächst Coop besser. Unser Problem: Wir expandieren zu wenig schnell mit den Supermärkten und kleineren Verkaufsformaten, wir haben zu wenig rasch investiert in Sortimente und in die Revitalisierung von Läden. Und dann gibt es ein grundsätzliches Problem bei der Zuwanderung.

Welches Problem?
Viele dieser Menschen verstehen die Migros nicht. Sie kommen zum ersten Mal in einen unserer Läden – und finden den Alkohol nicht. Ihnen fehlt die Story dazu, warum wir keinen Alkohol verkaufen.

Sie waren Fürsprecher eines «Oui» in der Alkohol-Abstimmung von 2022.
Das ist so und dazu stehe ich. Wozu ich auch stehe: Nach der Abstimmung ist diese Frage für die nächsten zehn Jahre vom Tisch. Es ist aber auch so: Das ursprüngliche Nein stammt aus einer Zeit, als Alkohol eines der grössten sozialpolitischen Probleme der Schweiz war. Ältere Menschen wissen das noch. Die Jüngeren nicht mehr. Wir berufen uns hier auf ein Alleinstellungsmerkmal, das zunehmend weniger gut verstanden wird.

Coop hat ihn, den Alkohol. Kann man aus einem Coop-Kind ein Migros-Kind machen?
Das ist schwierig – und es wird wohl eine zunehmend unwichtigere Rolle spielen. Wichtiger als diese Sozialisierung und Loyalität ist heute wohl die Dichte des Filialnetzes. Viele Menschen gehen dort einkaufen, wo man in gewünschter Nähe das beste Angebot findet. Diesbezüglich Flagge zeigen – das nimmt ab. Die nächsten Generationen werden viel stärker ein Sowohl-auch als ein Entweder-oder pflegen.

Wer ist eigentlich der grösste Widersacher der Migros? Aldi und Lidl? Oder Coop? Oder der Einkaufstourismus? Oder die Struktur der Migros?
Jeder der vier Punkte trägt zum Gesamtbild bei. Unter dem Fokus der Beeinflussbarkeit ist es natürlich die Migros selber, also der letzte der genannten Punkte. Dass die Migros – auch aufgrund ihrer Struktur – nicht immer den einfachsten Weg geht, ist Teil unserer Kultur und macht uns auch sympathisch. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir mit der neuen Supermarkt AG relativ schnell Ergebnisverbesserungen sehen werden.

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