Inflation bringt Studierende an den finanziellen Abgrund
«Ich habe schon an Prostitution gedacht, um meine Rechnungen bezahlen zu können»

Die Teuerung ist in der Schweiz zwar weniger extrem als im Ausland. Dennoch setzen steigende Preise jenen zu, die kaum etwas verdienen. Zu diesen gehören Studierende. Manche ziehen sogar in Betracht, sich zu prostituieren, um genügend Geld zu haben fürs Überleben.
Publiziert: 01.05.2023 um 18:26 Uhr
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Aktualisiert: 02.05.2023 um 00:20 Uhr
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Lidia Jovanovic, eine Studentin aus Lausanne in einer prekären Situation. Sie arbeitet Teilzeit, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten: «Ich will nicht bei meinen Freunden betteln.»
Foto: Jessica Chautems
Jessica Chautems

Auf der Esplanade de Montbenon in Lausanne mit Blick über den Genfersee und die Alpen trifft Blick auf eine ausgelassen diskutierende Gruppe Studierender. Sie kommen gerade aus einer Vorlesung. Wer es vermag, gönnt sich später noch ein kleines Bier auf der Terrasse.

Die Unbeschwertheit täuscht. Viele Studentinnen und Studenten machen sich Sorgen, wie sie über die Runden kommen können. «Wenn ich ausgehe, fühle ich mich schuldig. Ich sage mir, dass ich nicht so viel Geld ausgeben sollte. Vor allem bei den steigenden Preisen», sagt Lidia Jovanovic, die an der Universität Lausanne (UNIL) Literaturwissenschaften studiert. Die 22-Jährige befindet sich in einer prekären Situation. Sie ist mit fast 5000 Franken verschuldet. So trifft sie die anhaltende Inflation mit voller Wucht.

Alles tun, um ihren Traum zu verwirklichen

Um das Ausmass von Jovanovics Lage ganz zu erfassen, muss man ins Jahr 2018 zurückgehen. Kaum volljährig, stand sie nach der Scheidung ihrer Eltern auf der Strasse. Im letzten Jahr vor der Matur wird ihr erster Antrag auf ein Stipendium mit der Begründung abgelehnt, dass das Einkommen ihrer Eltern ausreichend sei. Lidias Mutter ist dabei, einen Antrag auf IV zu stellen. Ihr Vater, in der Landwirtschaft tätig, verdient monatlich etwas weniger als 3400 Franken (ohne Steuern). Das Problem: Dem Vater droht die Ausweisung aus der Schweiz.

Wie sie weiter berichtet, nimmt sie einen Teilzeitjob an einer Tankstelle an. «Ich habe Freunde, die arbeiten, um sich Kleider oder Ferien leisten zu können. Ich hingegen musste immer arbeiten, um zu überleben.» Die Wahl-Waadtländerin entschied sich nach der Matura dennoch für die Universität: «Ich wollte meinen Traum nicht aufgeben, auch wenn alles dagegen sprach.»

Mit 22 Jahren verschuldet

Heute lebt die Studentin mit serbischen Wurzeln mit ihrer Schwester und ihren Kindern in einer 3,5-Zimmer-Wohnung in Roche VD. «Ich zahle nur 500 Franken Miete pro Monat, zumindest im Moment. Danach hängt es davon ab, ob die Nebenkosten steigen.» Ihr Gehalt ergibt sich aus der Anzahl der Stunden, in denen sie Arbeit findet neben dem Studium. In guten Monaten verdient sie über 1500 Franken. In schlechten Monaten – zum Beispiel während der Prüfungszeiten – muss sie sich mit 600 Franken begnügen. Im Durchschnitt liegt ihr Einkommen bei 1300 Franken.

Selbst mit Zuschüssen für die Krankenversicherung und einer Ermässigung bei den Studiengebühren reicht ihr Einkommen nicht aus, um alle ihre Rechnungen zu bezahlen, wie Blick überprüfen konnte. Sie nutzt die Sommerferien, um verstärkt an der Tankstelle zu jobben, um damit einen Teil ihrer Schulden zurückzuzahlen. Eine belastende Situation. Im vergangenen Jahr hatte die junge Frau einen Zusammenbruch erlitten.

An alles Mögliche gedacht

Es ist eine Tatsache, dass niedrige Einkommen stärker von steigenden Lebenshaltungskosten betroffen sind. Heute steht Lidia an der Kasse der Tankstelle und wird von der Last der Inflation «erdrückt». Kein Fleisch mehr und nur noch Aktionsware. Trotzdem ist ihr Einkaufskorb um etwa 20 Franken teurer geworden. Die neuen Kleider kann sie vergessen. Den Arzt meidet sie.

«Wenn das weiter steigt, weiss ich nicht, wie ich das schaffen soll», klagt sie und zieht an einer Zigarette, die sie sich gelegentlich noch gönnt. «Ich habe schon daran gedacht, mich zu prostituieren. Ich habe mich sogar auf einer Webseite angemeldet. Aber schliesslich habe ich es aufgegeben. Ich habe mir gesagt, dass es mit 22 Jahren nicht richtig ist, es so weit kommen zu lassen.»

Teuerung ist eine zusätzliche Last

Es ist schwer abzuschätzen, wie viele Studenten und Studentinnen in der Schweiz im Jahr 2023 von Armut betroffen sein werden. Laut den Zahlen des Bundesamtes für Statistik (BFS) lebten vor der Pandemie 6,9 Prozent der 18- bis 24-Jährigen unterhalb der Armutsgrenze. Zur Erinnerung: Diese Schwelle liegt bei 2279 Franken pro Monat für eine alleinstehende Person. Während der Corona-Pandemie mussten viele junge Menschen in der Ausbildung auf ihre knappen Ersparnisse zurückgreifen, da ihre Arbeitsplätze, insbesondere jene in der Gastronomie und nicht unbedingt notwendige Geschäfte, geschlossen waren.

Die steigenden Lebenshaltungskosten sorgen nur für zusätzlichen Druck, stellt Emilie Rosenstein, Leiterin der Armutsstelle an der Hochschule für Sozialarbeit und Gesundheit in Lausanne, fest. «Studierende sind besonders gefährdet. Sie sind mit einer Kumulation von Schwierigkeiten konfrontiert: Sie haben in der Regel kein Vermögen, sie haben ein niedriges und unsicheres Einkommen und sie müssen ein Gleichgewicht zwischen ihrem Studium und ihrer Zukunft finden, die ihrerseits unsicher ist.»

Die Ausgaben eines durchschnittlichen Studenten belaufen sich auf 1950 Franken pro Monat, schätzt die UNIL. Darin enthalten sind Kosten für Unterkunft, Verpflegung, Versicherungen und Studienmaterial.

«Ich habe fast nie freie Tage»

Immerhin 73 Prozent der Studierenden haben einen Job, wie das BFS feststellt. «Wir sind weit entfernt vom Bild der Öffentlichkeit über Studenten, die vollständig von ihren Eltern unterstützt werden», kommentiert die Forscherin. Die Mehrheit von ihnen (68 Prozent) arbeitet mehr als zwei Tage pro Woche. Dies gilt auch für den 25-jährigen Francesco*, der es vorzieht, anonym zu bleiben. Er studiert an der Hochschule für Sozialarbeit in Genf und musste schon immer nebenher arbeiten. «Ich habe fast nie wirklich freie Tage», sagt der grosse, bärtige Mann.

«Ich habe fast nie wirklich freie Tage», sagt dieser Student, der anonym bleiben möchte.
Foto: Jessica Chautems

Die Zeit, die er mit arbeiten verbringt, ist Zeit, die er nicht für seine Kurse aufwenden kann. «Studieren erfordert, dass man im Kopf frei ist, was für Menschen in prekären Verhältnissen nicht immer der Fall ist», kommentiert Emilie Rosenstein.

Ein einfaches Leben

Nun hat Francesco endlich eine «gut bezahlte» Stelle in einem Kinderheim bekommen, wie er sagt. Er freut sich auf seinen März-Lohn – etwa 900 Franken. Denn: Sein Bankkonto ist leer. Es gelingt ihm aber, die steigenden Lebenshaltungskosten zu bewältigen, «für den Moment», wie er sagt. Im Gegensatz zu Lidia Jovanovic kann Francesco auf die finanzielle Unterstützung seiner Eltern zählen, bei denen er seit Beginn des Erstsemesters wieder wohnt. Ausser für Miete und Lebensmittel zahlt er jedoch alles aus eigener Tasche: Studiengebühren, Versicherungen, Auto... «Ich habe ein einfaches Leben, die Inflation wirkt sich vor allem auf meine Freizeit aus. Wenn es kein Geld mehr gibt, gehe ich nicht mehr aus. Ich lade meine Kumpels auf ein Bier zu Hause ein.»

Jede Ersparnis hilft. Er trinkt fast keinen Alkohol. Und für seine Kleidung hat er einen Trick gefunden: «Ich habe Glück, ich mag die Mode der 90er-Jahre. Ich sammle alte Jeans, die den Freunden meines Vaters nicht mehr passen», lacht Francesco, der Ende April auf der belebten Terrasse eines alten Bistros in der Nähe von Plainpalais sitzt.

Weniger als 2000 Franken im Monat

Kreativ sein und mit den vorhandenen Mitteln auskommen. Das ist auch die Realität von Ani*, die ihren Nachnamen nicht preisgeben möchte. Sie ist an der UNIL für den Masterstudiengang Film eingeschrieben. Im Gegensatz zu Lidia und Francesco erhält sie ein kantonales Stipendium, wie nur vier Prozent der Studierenden in der Schweiz, wenn man den Zahlen des BFS aus dem Jahr 2020 Glauben schenkt. Von Blick kontaktiert, berichten die Westschweizer Kantone von einem insgesamt stabilen Trend. Die Zahlen für die Jahre 2022-2023 sind noch nicht verfügbar.

Um ihr Taschengeld aufzubessern, arbeitet diese 24-jährige Waadtländerin zu 10 Prozent als studentische Hilfskraft. Sie möchte anonym bleiben.
Foto: Jessica Chautems

Auch Universitäten und Hochschulen können Personen in Not finanzielle Hilfe in Form von Stipendien, Gebührenermässigungen oder einmaliger Unterstützung gewähren. Die befragten Institutionen berichten von einem leichten Anstieg der Zahl der Empfänger seit Beginn der Covid-19-Pandemie.

Neben dem kantonalen Stipendium erhält Ani auch finanzielle Unterstützung von der UNIL. Ihre Mutter zahlt ihr die Kinderzulagen. Um ihr Taschengeld aufzubessern, arbeitet die 24-jährige Waadtländerin zu 10 Prozent als studentische Hilfskraft. Insgesamt erhält sie 1967.50 Franken pro Monat. Sie kann gerade so die Kosten für ihr Studio, die Nebenkosten, Lebensmittel, Handyabo, Semestergebühren und medizinischen Kosten decken, wie Blick nachprüfen konnte.

Zweimal nachdenken

«Ich komme nicht allzu schlecht weg, weil ich keine Angst habe, alle Hilfen zu beantragen, die ich bekommen kann», bekräftigt die junge Frau in einem Lausanner Café. «Aber es ist sehr stressig.» Und das aus gutem Grund: «Ein Stipendium zu bekommen, ist schwer. Die Verfahren sind komplex und sehr selektiv», sagt Emilie Rosenstein.

Und es kommt häufig zu Zahlungsverzögerungen. Aber wie überlebt man, wenn man wenig oder gar keine Ersparnisse hat? «Man schlägt sich durch», antwortet die Lausannerin. Die Inflation macht ihr noch mehr Sorgen. Auch die Kosten für ihren Einkaufskorb sind gestiegen. Das merkt sie vor allem an den Eiern, deren Preis sich fast verdoppelt hat.

Jetzt muss sie sich zweimal überlegen, ob sie ins Kino geht – ihre grösste Leidenschaft – oder mit dem Zug von Lausanne nach Genf fährt, um Freunde zu besuchen. Um Geld zu sparen, fährt sie lieber mit dem Velo, als öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Und wenn sie keine andere Wahl hat, fährt sie schwarz.

Die Last der Ungewissheit

Ani macht sich Sorgen, wie es weitergehen soll. Ihr 25. Geburtstag ist im Juni. Ab dieser Schwelle wird sie keinen Anspruch mehr auf das kantonale Stipendium oder die Kinderzulagen haben. «Das sind etwa 60 Prozent meines Budgets, die auf einen Schlag wegfallen. Ich weiss nicht, ob ich mein Studium fortsetzen kann.» Ihre Hoffnung ist es, ein Stipendium einer Stiftung für einen Forschungsaufenthalt im Ausland zu erhalten. Die Ungewissheit nagt an ihr.

In einem reichen Land wie der Schweiz machen sich die Studenten Sorgen um die Inflation. Es ist paradox: «In der Schweiz ist das Studium im internationalen Vergleich eher erschwinglich», analysiert Emilie Rosenstein von der Armutsstelle. Theoretisch hat fast jeder Zugang dazu. «In der Realität gibt es jedoch grosse Unterschiede aufgrund der sehr hohen Lebenshaltungskosten und der Höhe der materiellen Ressourcen, die notwendig sind, um sich im Studium zu halten.»

Verzichten. Seine kleinen Freuden opfern. Es sich zweimal überlegen. Angesichts der Inflation müssen Studenten und Studentinnen in prekären Verhältnissen Entscheidungen treffen. Und ein einfaches kleines Bier auf einer Terrasse kann am Ende des Monats ganz schön einschenken.

*Name der Redaktion bekannt

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