Wo steht die Schweiz vor dem Corona-Winter? Die stark steigenden Fallzahlen und das langsame Impftempo machen bange. Auch die Impfdurchbrüche bereiten Jan Fehr (48) Sorgen. Wenn wir eine Verschärfung der Massnahmen verhindern wollen, muss die Impfquote markant steigern, warnt der Infektiologe und Public-Health-Experte von der Universität Zürich. Auf die Impf-Booster allein dürfe man sich nicht verlassen.
Blick: Herr Fehr, nächste Woche startet der Bundesrat seine Impfoffensive. Wird sie zum Erfolg?
Jan Fehr: Ich hoffe es. Ich bin froh, dass wir nun in der Schweiz auch Booster-Impfungen anbieten können. Allerdings: Die Booster-Impfung allein wird uns nicht aus dem Schneider bringen. Entscheidender ist, dass wir insgesamt eine bessere Durchimpfungsrate hinbekommen. Wir sehen kantonal leider klar, dass Kantone mit schlechter Durchimpfung mehr Fälle aufweisen.
Gleichzeitig gibt es immer mehr Impfdurchbrüche. Wird das nicht langsam zum Problem?
Zunächst möchte ich festhalten, dass alle, die bereits zweimal geimpft sind, generell immer noch sehr gut geschützt sind. Eine schwere Erkrankung ist selten. Es gibt allerdings Menschen, bei denen das Immunsystem nicht mehr so schlagkräftig ist. Dazu zählen auch ältere Personen. Diese profitieren von einer Booster-Impfung. Damit können Impfdurchbrüche verhindert werden.
Sollte man zur Sicherheit vielleicht auch Geimpfte und Genesene zu Corona-Tests verpflichten, zum Beispiel bei der Rückreise in die Schweiz?
Natürlich wäre das noch sicherer. Solche Verschärfungen hätten aber das Risiko, dass wir die Bevölkerung verlieren. Sie scheinen zumindest jetzt noch nicht nötig. Wenn Genesene und Geimpfte noch zusätzlich einen negativen Test vorweisen müssten, würden sie sich fragen: Warum muss ich das jetzt, ist die Impfung zu wenig wirksam? Das löst unnötig Verunsicherung aus und könnte die Impfung abwerten. Die Impfung und der Genesenenstatus sind aber sehr effektiv!
Jan Fehr (48) ist Infektiologe an der Universität Zürich, wo er das Zentrum für Reisemedizin leitet. Sein Traum? HIV/Aids bis 2030 auszurotten. Neben HIV lag Fehrs Forschungsschwerpunkt bis zum Ausbruch der Covid-19-Pandemie auf Krankheiten, die uns höchstens bei Reisen in ferne Länder begegnen: Zika, Tuberkulose oder Malaria. In der Pandemie wurde das Zentrum für Reisemedizin unter Fehrs Leitung kurzerhand zum ersten Corona-Impfzentrum im Kanton Zürich. Fehr ist Teil des Forschungsteams des Projekts «Corona Immunitas», das die Ausbreitung des Coronavirus in der Schweiz untersucht.
Jan Fehr (48) ist Infektiologe an der Universität Zürich, wo er das Zentrum für Reisemedizin leitet. Sein Traum? HIV/Aids bis 2030 auszurotten. Neben HIV lag Fehrs Forschungsschwerpunkt bis zum Ausbruch der Covid-19-Pandemie auf Krankheiten, die uns höchstens bei Reisen in ferne Länder begegnen: Zika, Tuberkulose oder Malaria. In der Pandemie wurde das Zentrum für Reisemedizin unter Fehrs Leitung kurzerhand zum ersten Corona-Impfzentrum im Kanton Zürich. Fehr ist Teil des Forschungsteams des Projekts «Corona Immunitas», das die Ausbreitung des Coronavirus in der Schweiz untersucht.
Trotzdem: Impfdurchbrüche sind eine Realität. Wie schützen wir besonders verletzliche Gruppen?
Eine Verschärfung, wobei bei Genesenen und Geimpften zusätzlich ein Test verlangt wird – ich nenne dies die 2G-hoch-2-Regel –, könnte ich mir in Situationen vorstellen, wo man absolut auf Nummer sicher gehen muss. Beispielsweise, wenn man auf eine besonders gefährdete Person trifft. Zum Beispiel jemand, der nach einer Chemotherapie ein schwaches Immunsystem hat.
Könnten die Impfdurchbrüche mit der neuen Mutation Delta Plus zusammenhängen?
Es ist schwierig, das aktuell abzuschätzen. Aber selbst wenn diese nur geringfügig ansteckender sein sollte, kann das Ganze in einer fragilen Situation aus dem Ruder laufen.
Zu den Impfdurchbrüchen und Delta Plus kommt das kühle Wetter hinzu. Corona hat leichteres Spiel. Sind Sie besorgt?
Ja, ich bin besorgt. Doch noch habe ich Hoffnung, dass wir durchkommen, ohne in einer nächsten grossen Welle zu landen. Dazu muss aber die Impfquote steigen. Und gleichzeitig müssten die aktuellen Massnahmen voll ausgeschöpft und umgesetzt werden.
Wollen Sie sagen, wir halten uns nicht an die Massnahmen?
Im Vergleich zu umliegenden Ländern scheinen wir einfach lascher zu sein. Ich mache Ihnen ein Beispiel: Vor kurzem bin ich im Zug aus Italien über Chiasso wieder in die Schweiz eingereist. Niemand wollte mein Zertifikat und/oder das obligatorische Einreiseformular sehen. Weder bei mir noch bei anderen Reisenden von überall her im Zug. Dies im Gegenteil zu Italien, wo ich bereits beim Betreten des Zugs das Zertifikat zeigen musste. Ansonsten hätte ich die Reise wohl nicht antreten können. Hier haben wir noch viel Luft nach oben. Ähnliches erlebe ich auch wieder zurück in der Schweiz im öffentlichen Leben.
Was meinen Sie damit?
Ich habe den Eindruck, dass die alten Massnahmen wie Masken und Distanz immer weniger eingehalten werden. Ich kann das aber nicht mit Zahlen belegen. Für die 3G ist das ja auch stimmig. Aber nicht für solche, die weder genesen, geimpft noch getestet sind. Die Situation wird unübersichtlich, und es stellt sich eine Erosion der Schutzmassnahmen ein. Ein Beispiel: Viele betreten ein Restaurant und tragen gar keine Maske mehr, weil sie denken, dass sie gleich sowieso das Zertifikat zeigen und die Masken abziehen werden. Es liegt dann nahe, dass auch Ungeimpfte oder Nichtgenesene gar keine Maske mehr anziehen. Wer möchte schon auffallen?
Ist es denn nicht verständlich, dass die Leute zur Normalität zurückwollen?
Doch, das ist verständlich. Ich auch. Und gerade deshalb müssen wir bewährte Massnahmen konsequent umsetzen. Dazu zählen auch die Impfung und das Zertifikat. Zudem würde ich mal behaupten, dass das Zertifikat und die aktuellen Schutzmassnahmen im Vergleich zu einem Lockdown zumutbar sind.
Andere Länder haben die Pandemie für beendet erklärt. Sie haben deutlich höhere Impfquoten als die Schweiz. Was können wir tun?
Wir sollten alles daran setzen, dass wir nicht mehr das mitteleuropäische Impf-Schlusslicht sind. Wir haben offensichtlich einen ziemlich verkrampften Umgang mit der Impfung in der Schweiz. Ich wage unter Berufskolleginnen und -kollegen manchmal schon gar nicht mehr, mich als Schweizer zu outen. Sie verstehen nicht, weshalb wir das nicht hinkriegen, obwohl die Schweiz sonst oft vorbildlich ist.
Woran liegt es denn?
Ich kann dieses Phänomen auch nur ansatzweise erklären. Gründe mögen sein, dass wir als Gesellschaft doch nicht ganz so hart getroffen wurden wie zum Beispiel Spanien oder Portugal. Und: Möglicherweise kann man sich eine impfablehnende Haltung hierzulande eher leisten, weil man weiss, dass man dank unserer sehr guten Spitäler ja immer noch einen Fallschirm hat, sollte man doch schwer erkranken.
Der Bundesrat wollte Impfanreize schaffen, indem Tests kostenpflichtig wurden. Ging der Schuss nach hinten los?
Mit den kostenpflichtigen Tests sollen die enormen Kosten nicht mehr einfach der Allgemeinheit aufgebürdet werden, wenn gleichzeitig eine Impfung möglich ist. Dies ist zudem ein Beitrag zur Steigerung der Impfquote. Sie muss aber von weiteren Massnahmen flankiert werden, damit das Ziel nicht verfehlt wird.
Flankierende Massnahmen? Welche?
Die konsequente Zertifikatskontrolle zum Beispiel. Und damit verknüpft: Maske erst ab, wenn Zertifikat gezeigt. Sonst drehen wir uns im Kreis und bringen uns im internationalen Vergleich ganz ins Offside. Mit negativen Folgen für unsere Gesundheit, aber auch für den anstehenden Winter-Tourismus und die Wirtschaft insgesamt.
Das Interview mit Jan Fehr wurde schriftlich geführt.