Seit 20 Jahren wird Menschen mit Behinderungen freie Fahrt versprochen. So lange hatten die Verkehrsbetriebe in der Schweiz schon Zeit, um Rollmaterial und Haltestellen barrierefrei zu gestalten. Seit dem 1. Januar ist die Übergangsfrist aus dem Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) abgelaufen. Dass SBB und Co. sie verpassen würden, hat sich allerdings abgezeichnet.
Marlies Zimmermann, die selbständig mit dem Rollstuhl vom Engadin nach Winterthur pendelt, hat dafür ein gewisses Verständnis: «Den ÖV barrierefrei umzubauen, ist kompliziert, das ist klar.»
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Der Anschluss klappt oft nicht
Doch auf den Rückschritt, der mit dem Fahrplanwechsel im Dezember 2023 kam, war sie nicht vorbereitet. Auf ihrer bisher barrierefreien Pendelstrecke wurden plötzlich mit wenigen Ausnahmen wieder alte, nicht behindertengerechte Züge eingesetzt.
Seither muss sie sich bei jeder Reise entscheiden: entweder den rund 30 Minuten langsameren, dafür barrierefreien Interregio wählen – oder auf der bisherigen Verbindung riskieren, dass ihr der Anschluss in Chur vor der Nase wegfährt. Denn die vier Minuten Umsteigezeit genügen oft nicht, um unter Einsatz einer Hebebühne den Zug zu wechseln.
Die erstaunliche Begründung
Marlies Zimmermann beschwert sich bei den SBB über diese Verschlechterung. Der Kundendienst wartet mit einer ungewöhnlichen Begründung auf: Man müsse das Behindertengleichstellungsgesetz umsetzen. Die bisher auf der Pendelstrecke verwendeten modernen Züge seien verlegt worden, damit man andernorts mindestens eine barrierefreie Verbindung pro Stunde anbieten könne. So verlangt es eine Umsetzungsrichtlinie des Bundesamts für Verkehr. Sie sei auf Zimmermanns Strecke durch den langsameren Interregio erfüllt, erklärt SBB-Mediensprecherin Sabrina Schellenberg.
Bei Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen, kennt man das Problem. «Es ist zwar pragmatisch, das bestehende Rollmaterial so zu verteilen, dass es auf allen Strecken ein Mindestmass an barrierefreien Verbindungen gibt», sagt Sprecher Jonas Gerber. Für die Betroffenen sei der aktuelle Zustand dennoch unhaltbar: «Das Gesetz sichert Menschen mit Behinderungen die volle autonome Nutzbarkeit des gesamten ÖV-Angebots zu.»
«Stellen Sie sich vor, Sie warten 20 Jahre darauf, den ÖV autonom zu nutzen. Doch kaum ist die Frist abgelaufen, sehen Sie sich stattdessen sogar mit einer Verschlechterung Ihrer persönlichen Situation konfrontiert, weil die Umsetzung verschlafen wurde.»
Sanktionen gefordert
Für volle Barrierefreiheit im ÖV fordert der Verband vom Bund nun griffige Massnahmen in der kürzlich gestarteten Revision des BehiG: «Es braucht eine neue, kurze Umsetzungsfrist, verbindliche Zwischenziele und damit verbundene Sanktionen sowie eine solide Finanzierung.»
Die Betroffenen müssen sich weiter in Geduld üben. Immerhin: Auf Marlies Zimmermanns Verbindung sollen voraussichtlich mit dem Fahrplanwechsel Ende Jahr wieder behindertengerechte Züge rollen – diesmal hoffentlich endgültig.