Die Arbeit geht den Hilfsorganisationen nicht aus. Die Schlangen vor den Abgabestellen für überschüssige Lebensmittel werden in den vergangenen Wochen länger und länger. «Wir könnten weit mehr Lebensmittel an Bedürftige verteilen als wir zur Verfügung haben», sagt Sabrina Munz, Sprecherin der Schweizer Tafel. Die Stiftung sammelt täglich rund 18 Tonnen überschüssige Lebensmittel bei Detailhändlern wie Migros, Coop, Lidl und Aldi ein und verteilt sie mit ihren 36 Fahrzeugen gratis an 450 Abgabestellen. Dazu gehören Gassenküchen, soziale Institutionen, Obdachlosenheime oder Frauenhäuser.
So erfährt Munz aus erster Hand, dass mehr Menschen auf Unterstützung angewiesen sind. «Es kommen derzeit vermehrt Anfragen unserer Abnehmer, ob sie nicht noch mehr Lebensmittel als üblich erhalten können», sagt Munz. «Die Schlangen vor den sozialen Einrichtungen sind tatsächlich länger geworden.» Ob es einen neuen Rekord gibt, könne sie nicht beurteilen, da diese Zahlen nicht erfasst würden.
Menschenschlangen vor dem Verein Incontro
Augenschein an der Zürcher Langstrasse: Eingezwängt zwischen einem Hotel und einem Kulturzentrum auf der einen Seite, den Geleisen des Hauptbahnhofs auf der anderen Seite stehen Menschen an für Essen. Jeweils ab 17.30 Uhr verteilt hier der Verein Incontro eine warme Mahlzeit und Lebensmittel an Bedürftige – an jedem Tag und bei jedem Wetter. Schwester Ariane (49), Gründerin des Vereins Incontro, bestätigt, dass sich die Situation verschärft habe. «Im Moment spüren wir eine neue Flüchtlingswelle aus der Ukraine. Menschen kommen aus Kiew, aber auch aus dem Osten und Süden des Landes.»
Doch nicht nur aus dem Kriegsgebiet in Europa kommen die Menschen hierher, um wenigstens einmal im Tag etwas Warmes essen zu können. «Unter den Bedürftigen gibt es neben Flüchtlingen aus der Ukraine und dem Nahen Osten auch Wanderarbeiter aus Osteuropa oder Grossbritannien, die oft obdachlos sind, Frauen und Männer aus dem Milieu, alte Menschen und Familien in Armut, aber auch Schweizer Obdachlose.»
Geduldig stehen die Menschen in der Schlange, etwas versteckt zwar, aber trotzdem sichtbar für die Besucher der Europaallee, der neuen Luxusmeile im Herzen von Zürich.
Institutionen führen Nummern-System ein
Auch Munz von der Schweizer Tafel berichtet von Bedürftigen, die schon mehrere Stunden vor der Öffnung der Abgabestellen warten, «um die frischesten Lebensmittel zu ergattern». Munz: «Viele Institutionen haben ein Nummern-System eingeführt, damit auch wirklich alle zum Zug kommen.» Derzeit ist es der Zustrom ukrainischer Flüchtlinge, der zu einem erhöhten Bedarf an Lebensmitteln und Abgaben führt. Stand Montag haben 67'621 Menschen aus der Ukraine bislang den Schutzstatus S von den Bundesbehörden erhalten. Mit etwas Verzögerung kommen nun auch jene an der Armutsgrenze, denen die Teuerung zusetzt.
Kein Randphänomen: Im Jahr 2020 lebten in der Schweiz 722'000 Menschen unter der Armutsgrenze. Das sind 8,5 Prozent der Bevölkerung. Armutsgefährdet sind gemäss Caritas Schweiz 1,3 Millionen Menschen. Die Verkaufszahlen in den Caritas-Märkten, wo sich registrierte Bedürftige mit vergünstigten Lebensmitteln und Haushaltsartikeln eindecken können, schnellen in die Höhe.
Caritas-Märkte erwarten Peak im 2023
Ein Drittel mehr Umsatz und Frequenzen verzeichnen die Märkte im Oktober im Vergleich zum Vorjahr. «Das sagt doch schon etwas aus: Deutlich mehr Menschen (Frequenz) kaufen im Caritas-Markt ein, und zudem grössere Mengen», sagt Caritas-Schweiz-Sprecherin Lisa Fry. Den Höhepunkt erwartet sie mit Verzögerung im Frühjahr 2023. Dann, wenn sich die höheren Heizkosten in den Nebenkostenabrechnungen bemerkbar machten, die Krankenkassenprämien stiegen und die höheren Strompreise auf Konsumprodukte durchschlagen.
Helfer sind am Anschlag
Alex Stähli (55), Geschäftsführer von Tischlein Deck Dich, beobachtet die Zunahme der Not direkt an den Verteilorten: «Viele Abgabestellen haben die Kapazitätsgrenzen erreicht, vor allem in urbanen Zentren.» Die Helfer sind am Anschlag: «Eine effiziente Lebensmittelhilfe ist eine grosse Herausforderung, die Vereine sind im Moment total überfordert und müssen deshalb auch ihre Grenzen kennen», so Stähli.
Tischlein Deck Dich rettet wie die Schweizer Tafel Lebensmittel vor der Vernichtung, um sie an Bedürftige weiterzugeben, an bald 149 Abgabestellen in der ganzen Schweiz. So wie bei der katholischen Kirche Heilig Kreuz in Zürich Altstetten: Innert einer Stunde sind die meisten Frischprodukte wie Gemüse, Obst oder Brot verteilt, übrig bleiben einzig ein paar Fertigsaucen oder Süssstoff. 50 Menschen haben hier ihre Einkaufstaschen gefüllt, um sich und ihre Familien mit dem Nötigsten zu versorgen.
Der Bedarf an Lebensmittelhilfe wird weiter steigen: «Wir bauen unser Angebot laufend aus, können in diesem Jahr 300 bis 400 Familien zusätzlich versorgen», erklärt Stähli. Allerdings weiss er auch, dass die Lebensmittelhilfe bestenfalls die Not etwas lindert, die Armut damit aber nicht beseitigen kann.