Samstagabend, kurz vor Ladenschluss in der Volg-Filiale in Freienstein-Teufen ZH. Auf dem Joghurt prangt ein Kleber: 50 Prozent Rabatt. Dazu: «Rette mich!» Das Joghurt darf nur noch heute verkauft werden, nach dem Wochenende ist das Ablaufdatum überschritten. Volg verkauft den Joghurtbecher in letzter Minute zum Spottpreis, damit er nicht in die Abfalltonne wandert.
Die Idee mit den Rabattkleberli wird zunehmend im Digitalen weitergesponnen. Bei Händlern angesagt ist vor allem die App Too Good To Go (TGTG; «zu gut, um es wegzuwerfen») mit über 1,5 Millionen Nutzerinnen und Nutzern allein in der Schweiz.
Erfolgs-App schreibt rote Zahlen
Das Geschäftsmodell ist so simpel wie erfolgreich: Restaurants, Detailhändler, Bäckereien, Hotels oder seit neustem sogar Airlines bieten übrig gebliebene Lebensmittel in der App zu reduzierten Preisen an. User reservieren die Menüs online – ohne genau zu wissen, was sie schlussendlich bekommen – und holen sie noch am selben Tag ab.
Chefin der dänischen Erfolgs-App ist Mette Lykke (40). Sie positioniert ihre Firma gekonnt als Lebensmittelretterin. «Wir wollen überall da sein, wo es Essen zu retten gibt. Jede Mahlzeit zählt», sagt Lykke im Gespräch mit Blick. Natürlich zählt für sie auch jeder Rappen. Denn Gewinn macht Lykke noch keinen: «Wir schreiben rote Zahlen.»
Grossfirmen polieren ihr Image auf
Auf der TGTG-App finden sich einige der bekanntesten Firmen der Schweiz: Migros, Coop, Swiss. Und täglich kommen neue Brands dazu. Auch Ikea will bald mitmischen und über TGTG übrig gebliebene Hotdogs und Köttbullar verscherbeln, wie Blick weiss. Eine Zusammenarbeit ist gut fürs Image. Die Kunden sparen dank der Tiefpreise Geld und tun gleichzeitig etwas Gutes.
Das Potenzial ist für Lykke so gross wie das Ausmass der Lebensmittelverschwendung. In der Schweiz landen pro Kopf jedes Jahr 300 Kilogramm Essen im Abfall. Zum Vergleich: In Italien, der Wiege von Pizza, Pasta und Tiramisù, sind es 130, in Norwegen gerade einmal 70 Kilo. Nur in den USA, der Heimat des Fast Food, ist die Verschwendung noch grösser als in der Schweiz. Mehr als 400 Kilo wandern dort pro Kopf und Jahr in den Müll.
Wenn Mette Lykke darüber spricht, dass mehr als ein Drittel der weltweit produzierten Lebensmittel verschwendet wird, gerät sie in Rage. «Wir brauchen eine Fläche so gross wie China, nur um Esswaren zu produzieren, die später im Abfall landen!», sagt die Dänin.
Lebensmittelretter in der Kritik
Ihr Jungunternehmen ist in 17 Ländern aktiv. In der Schweiz gibt es TGTG seit drei Jahren, 5000 Restaurants und Läden machen mit, von der Trendbäckerei in der Stadt Zürich bis zum Volg in Freienstein-Teufen. Drei Millionen Mahlzeiten seien hierzulande bereits gerettet worden, wie das Unternehmen zuletzt vermeldete.
Lykke und ihre inzwischen 1250 Angestellten weltweit müssen auch Kritik einstecken. Schliesslich kann man sich mit der App bereits am frühen Morgen ein Abendmenü vom Inder um die Ecke reservieren. Kaum möglich, heisst es, dass es sich dabei wirklich um Reste handelt. Restaurants kalkulierten die Bestellungen via TGTG-App von Beginn weg ein.
«Restaurants und Bäckereien wollen zwei Stunden vor Ladenschluss nicht schon ausgeschossen sein. Sie produzieren also immer ein bisschen zu viel», verteidigt sich Lykke. Schliesslich wüssten die User nicht, was sie am Abend bekommen. Sie kriegen im Restaurant ein Überraschungsmenü, beim Detailhändler eine Wundertüte.
TGTG streicht 2.90 Franken Kommission ein
Gratis geben die Firmen ihre Überschussware nicht ab. «Die Läden decken so ihre Kosten. Aber wir sind nicht als zusätzliche Einkommensquelle gedacht», betont Lykke. Ihr Unternehmen selbst streicht von den Partnerbetrieben eine Kommission ein. In der Schweiz liegt sie bei 2.90 Franken. Das Essenspäckli im Volg Freienstein-Teufen kostet 5.90 Franken. Fast die Hälfte davon fliesst nicht an den Laden, sondern an Lykkes Firma als Vermittlerin.
Die Einnahmen werden direkt reinvestiert, zum Beispiel ins Wachstum. Neben Europa und Nordamerika sollen bald weitere Länder und Kontinente hinzukommen, so Mette Lykke. Welche es sind, sagt sie nicht. Um profitabel zu werden, muss TGTG in möglichst vielen Ländern vertreten sein. Das Potenzial für Lebensmittelretter – ob kommerziell oder nicht – ist in der heutigen Wegwerfgesellschaft unbestreitbar gross.