Nach langen Jahren des Wartens und zahlreichen Rückschlägen stehen nun gleich zwei Arzneimittel in Aussicht, die die Krankheitsprozesse im Gehirn verändern. Und damit den Krankheitsverlauf von Alzheimer deutlich verlangsamen.
«Die Medikamente sind ein Meilenstein», sagt Demenz-Spezialist Julius Popp (53) zu Blick. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie forscht an der Universität Zürich und ist Co-Leiter des Zentrums für Gedächtnisstörungen und Alzheimer der Klinik Hirslanden. Er weiss: «Wir sind nun bei der Alzheimer-Forschung an einem Wendepunkt angelangt.»
Neben den Diätspritzen die neue Währung
Das ist nicht nur gut für die Betroffenen, sondern auch für die Hersteller: Neben den Diätspritzen sind die Wirkstoffe gegen die weltweit häufigste Demenzform das neue goldene Kalb der Pharmaindustrie. Die Medikamente Lecanemab und Donanemab bescheren ihren Entwicklerfirmen hohe Börsenwerte. Das amerikanische Unternehmen Eli Lilly, das neben Donanemab auch ein Mittel gegen Übergewicht entwickelt, ist etwa seit Beginn des Jahres mehr wert, als die Schweizer Pharmariesen Novartis und Roche zusammen.
Bereits vor 117 Jahren beschrieb der deutsche Arzt Alois Alzheimer (1864–1915) in einer verstorbenen Patientin das erste Mal die Krankheit, die später nach ihm benannt wurde. Obwohl nun seit über einem Jahrhundert bekannt ist, was bei der häufigsten Demenzform im Hirn passiert: Ein Heilmittel gibt es bis heute nicht.
Auch Lecanemab und Donanemab werden die Krankheit nicht eliminieren. Beide Medikamente basieren auf Antikörper, die die für Alzheimer typischen Eiweissverklumpungen im Hirn abbauen. «Sie können sowohl dieses Protein im Gehirn beseitigen als auch die Entwicklung der Symptome deutlich verlangsamen», sagt Popp. Weshalb sich jedoch diese sogenannten Plaques aus dem Protein Beta-Amyloid überhaupt bilden, ist bis heute ungeklärt.
Hohe Betreuungskosten
Die Krankheit führt durch ihre fehlenden Heilungschancen und die oft rasch fortschreitende Demenz zu hohen Gesundheitskosten. Gemäss einer Studie von Alzheimer Schweiz sind diese hierzulande auf 11,8 Milliarden Franken zu beziffern. Beinahe die Hälfte, nämlich 5,5 Milliarden Franken, fallen für unbezahlte, durch Nahestehende geleistete Betreuung und Pflege an.
Die Medikamente dürften zwar für das Gesundheitssystem ebenfalls teuer sein, könnten aber durch ihre Wirkung genau die Angehörigen entlasten. Während Donanemab noch in der letzten Entwicklungsphase ist, gab die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA bereits Anfangs Jahr grünes Licht für den Wirkstoff Lecanemab. Entwickelt wurde er vom japanischen Konzern Eisai. Hergestellt wird er in der Schweiz, beim Pharmaunternehmen Biogen in Luterbach SO. Bereits nächstes Jahr könnte er auch hierzulande auf den Markt kommen.
«Natürlich ist eine gewisse Aufbruchstimmung da», sagt Stefanie Becker (56), Direktorin der Organisation Alzheimer Schweiz. «Wir müssen bei den Betroffenen aber etwas die Erwartungshaltung relativieren.» Denn sinnvoll sind die beiden Medikamente nur, wenn die Krankheit früh diagnostiziert wird. Bei Hausärztinnen und -ärzten sowie Betroffenen würden heutzutage die frühen Symptome von Alzheimer jedoch oft übersehen. «Glücklicherweise gibt es neben den Wirkstoffen auch grosse Durchbrüche bei der Früherkennung», sagt Popp.
Heute wird neben der Erkennung anhand der Symptome überwiegend Magnetresonanztomographie (MRI) und eine Analyse des Nervenwassers im Gehirn für eine Alzheimer-Diagnose verwendet. «Wir können so dank Biomarkern früh Veränderungen im Gehirn nachweisen», sagt Popp. «Damit können wir Alzheimer genau diagnostizieren oder ausschliessen.»
In naher Zukunft könnten die Erkrankungen im Gehirn gar noch früher nachgewiesen werden. «Bereits bevor Symptome auftreten», sagt Popp. «Ausserdem werden wir Veränderungen bald auch im Blut nachweisen können.» In klinischen Studien würde dies bereits erfolgreich durchgeführt. Denn je früher die Diagnose, desto früher können Massnahmen ergriffen werden. Und desto besser sind folglich die Chancen auf einen langsamen Verlauf der Krankheit.