Faktencheck zur stillen Pandemie
So steht es um die Antibiotikaresistenz in der Schweiz

Ein britischer Arzt warnte am Wochenende vor Antibiotikaresistenzen und deren Folgen. Existiert sie auch in der Schweiz? Blick macht den Faktencheck.
Publiziert: 07.08.2023 um 20:17 Uhr
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Aktualisiert: 08.08.2023 um 08:16 Uhr
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Der britische Starchirurg Ara Darzi warnt vor antibiotikaresistenten Bakterien.
Foto: Getty Images for Aurora Humanitarian Initiative

Der britische Starchirurg Ara Darzi (63) schlägt Alarm. Eine stille Pandemie, gefährlicher als Corona, an der bereits heute jedes Jahr eine Million Menschen sterben, bedrohe die Menschheit: Antibiotikaresistenz.

«Im Jahr 2028 werden so viele Menschen an Infektionen sterben, die gegen Antibiotika resistent sind, wie im Jahr 1928 vor der Entdeckung des Penicillins an Infektionen starben», prognostiziert Darzi.

Trotz der düsteren Prognosen und Darzis Besorgnis: Der britische Arzt verfolgt nicht zuletzt auch eigene Interessen. Denn er hat ein eigenes Zentrum zur Bekämpfung der Antibiotikaresistenz gegründet, das 2028 eröffnet werden soll.

Blick macht den Check – und wollte wissen, wie schlimm das Phänomen tatsächlich ist – auch in der Schweiz.

Sind Antibiotikaresistenzen ein neues Phänomen?

Nein, Resistenzen gegen Antibiotika gibt es schon seit Milliarden Jahren. Denn es sind Bakterien und Pilze selbst, die Antibiotika produzieren, um sich zu schützen oder gegenseitig anzugreifen. So wurden auch die ersten in der Medizin verwendeten Antibiotika, etwa Penicillin, aus Pilzen gewonnen. Nur: Der Antibiotika-Verbrauch in der Human- und Tiermedizin hat seit Mitte der 1940er-Jahre stark zugenommen. Und dadurch hat der Mensch die Antibiotikaresistenz verstärkt.

Weshalb werden Bakterien antibiotikaresistent?

An sich ist die Entstehung von Antibiotikaresistenzen ein natürlicher Prozess. Jedes Mal, wenn sich Bakterien vermehren, kann es zu Genmutationen kommen, die Bakterien antibiotikaresistent machen. Diese Resistenzen verbreiten sich dann, weil Bakterien ihr Erbgut untereinander austauschen. Kommt ein Antibiotikum zum Einsatz, vermehren sich resistente Bakterien – weil sie als einzige überleben und ihr Erbgut weitergeben. Das heisst: Die Entstehung von Antibiotikaresistenzen lässt sich nicht verhindern, aber mit einem verantwortungsvollen Medikamenteneinsatz verlangsamen.

Wie verbreiten sich antibiotikaresistente Bakterien?

1) Gesundheitseinrichtungen: Resistente Bakterien verbreiten sich dort, wo Antibiotika eingesetzt werden, also mehrheitlich in Gesundheitseinrichtungen.

2) Übertragung Mensch/Tier – und umgekehrt: Die Übertragung findet meist über die Hände statt und kann auch zwischen Mensch und Tier erfolgen.

3) Lebensmittel: Da in der Tierzucht Antibiotika zum Einsatz kommen, setzen sich resistente Bakterien teils beim Schlachten im Rohfleisch fest.

4) Tourismus und Lebensmittelimporte: Wegen der Lebensmittelimporte und des Tourismus breiten sich resistente Bakterien über die Landesgrenze aus.

5) Wasserkreislauf: Und da resistente Bakterien und Antibiotika mit dem Kot ausgeschieden werden, landen sie in der Kanalisation. Davon eliminieren die Kläranlagen 99 Prozent.

6) Landwirtschaft: Aber der Rest landet in Flüssen und Seen sowie im Grundwasser. Das nutzen wiederum Bauern, um ihre Felder zu bewässern, wodurch sie Obst und Gemüse kontaminieren, bis hin zu Fischen, Eiern und Milchprodukten. Setzen Landwirte zusätzlich kontaminierten Naturdünger ein, sickert dieser zurück ins Grundwasser.

Wie viele Menschen sterben deshalb jährlich?

Laut einer Studie des Schweizerischen Zentrums für Antibiotikaresistenzen sterben in der Schweiz pro Jahr etwa 280 Menschen wegen der Antibiotikaresistenz. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass es weltweit jährlich zu rund 1,3 Millionen Todesfällen kommt, weil Antibiotika nicht anschlagen. Es wird erwartet, dass die Zahl bis 2050 auf 10 Millionen steigt.

Wie ist die Lage in der Schweiz?

Im Vergleich zu anderen Ländern steht die Schweiz aktuell noch gut da, aber auch hier nehmen die Antibiotikaresistenzen abgesehen von Ausnahmen zu. Besonders problematisch sind multiresistente Bakterien. Sie gelten als grösstes biologisches Sicherheitsrisiko der Schweiz, wie die eidgenössische Fachkommission für biologische Sicherheit und Umwelt 2019 im Bericht «Biologische Risiken Schweiz» festhielt.

«Antibiotikaresistenz ist ein globales Problem», sagt Nina Khanna (48), Professorin für lnfektiologie an der Universität Basel und leitende Ärztin an der Klinik Infektiologie und Spitalhygiene des Universitätsspitals. Obwohl die Schweiz derzeit nicht als Hochrisikoland für Antibiotikaresistenz gelte, sehe man hierzulande zunehmend Patienten mit resistenten Infektionen.

Dennoch: Aktuell besteht in der Schweiz keine Bedrohung der öffentlichen Gesundheit, sagt Walter Zingg (56), Leiter Spitalhygiene am Unispital Zürich. Kopfzerbrechen bereiten jedoch Patienten aus Regionen wie Asien oder Südeuropa, wo Resistenzen bereits weit fortgeschritten sind. Personen von dort seien praktisch immer mit multiresistenten Bakterien besiedelt.

Was wird dagegen unternommen?

Bereits 2015 hat der Bundesrat beschlossen, aktiv gegen Antibiotikaresistenzen vorzugehen. Er hat dazu das Programm «Strategie Antibiotikaresistenzen» lanciert. Das Projekt, an dem mehrere Bundesämter beteiligt sind, zeigt bereits erste Erfolge: Der Antibiotikakonsum nimmt ab, Medikamente werden besser dosiert eingesetzt, und damit haben sich die Resistenzen der Bakterien in der Schweiz stabilisiert.

Eine kleine Revolution könnte sich an der Universität Zürich ereignen. Sie forscht mit der Firma Spexis an einem neuen Wirkstoff, der Bakterien abtötet. Um diese zu vernichten, müssen stets neue Angriffspunkte gewählt werden – und das war seit mehr als 50 Jahren nicht mehr der Fall. Bei ersten Versuchen mit Mausmodellen von Lungeninfektionen erwies sich der Wirkstoff als äusserst effizient. Zudem soll er relativ langsam Resistenzen bilden. Doch bis der Stoff massentauglich eingesetzt wird, kann es bis zu zehn Jahre dauern.

Auch die Universität Basel forscht zum Thema. Sie beherbergt den Nationalen Forschungsschwerpunkt «AntiResist», ein vom Schweizerischen Nationalfonds finanziertes Schweizer Forschungskonsortium, das sich zum Ziel gesetzt hat, eine neue, innovative Basis für die Entwicklung von Antibiotika zu schaffen.

Weshalb entwickelt sich die Herstellung neuer Antibiotika schleppend?

An den Universitäten wird fleissig an neuen Antibiotika geforscht. Aber um diese weiterzuentwickeln, braucht es Pharmakonzerne, sagt Oliver Zerbe (60), Professor für Chemie an der Universität Zürich. «Ein Antibiotikum zu entwickeln, ist sehr kostenaufwendig, und kommt es auf den Markt, muss man es möglichst wenig einsetzen», sagt Zerbe. Deshalb sei es nicht so lukrativ wie ein Krebsmedikament, das Patienten jahrelang verwenden. Und so haben sich die Schweizer Pharma-Giganten grösstenteils aus der Antibiotika-Forschung verabschiedet. Der Schweizer Verband der forschenden Pharma (Interpharma) bestätigt, dass sich damit kaum Umsätze machen lassen und sie somit die Forschungs- und Entwicklungskosten bei weitem nicht kompensieren können.

«Der Mangel an neuen Antibiotika ist das Ergebnis vieler komplexer wissenschaftlicher, klinischer und wirtschaftlicher Herausforderungen», sagt Christoph Dehio (58), Professor für Molekulare Mikrobiologie an der Universität Basel und Leiter «AntiResist». Nach dreissig Jahren Stagnation bei der Entwicklung neuer Antibiotika stünden wir kurz vor einer post-antibiotischen Ära, in der häufige Infektionen wieder lebensbedrohlich werden.

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