Europas Energiepolitik kennt dieser Tage vor allem eine Maxime: So schnell wie möglich weg vom russischen Gas und es stattdessen aus anderen Quellen beziehen. Doch bis die nötige Infrastruktur aufgebaut ist, um Erdgas von anderen Standorten in gleichen Mengen zu transportieren, können Jahre vergehen.
Da erscheint ein Gasvorkommen in den Niederlanden wie ein Geschenk vom Himmel. Genauer gesagt in der Nähe der nördlichen Provinz Groningen. Dort schlummert eine förderbare Menge von 450 Milliarden Kubikmetern unter dem weichen Lehmboden. Das wäre genug, um Europas Gas-Importe aus Russland während drei Jahren vollständig zu ersetzen. Wertvolle Zeit also, um Alternativen zu finden. Das Problem: Die Förderung der riesigen Gasmengen verursacht regelmässig Erdbeben.
Druck zur Förderung nimmt zu
Diese haben über die Jahre einen enormen Schaden angerichtet. Tausende Häuser wurden durch die Erdbeben ernsthaft beschädigt. Die lokale Bevölkerung protestiert seit Jahrzehnten gegen eine Fortführung der Bohrungen.
Bis im kommenden Herbst soll darum noch einzig eine vernachlässigbare Menge von 6,5 Milliarden Kubikmeter dem Gasvorkommen entnommen werden. Bis spätestens 2028 will die Regierung die Förderanlage endgültig stilllegen. Damit bliebe eines der bis heute grössten Gasfelder der Welt – mitten in Europa – unangetastet.
Ganz anders sah es zu den Spitzenzeiten der Anlage in den 70er-Jahren aus. Damals förderte die Regierung zusammen mit einer Tochter des Mineralöl- und Erdgas-Riesen Shell bis zu 87,7 Milliarden Kubikmeter pro Jahr aus dem Boden. Zum Vergleich: Bei heutigem Gebrauch wäre der Gasbedarf der Schweiz mit einer solchen Menge für 25 Jahre gedeckt. Ab Beginn der 90er-Jahren brachten regelmässige Erschütterungen das Projekt in die Kritik.
Internationaler Druck steigt
Lange stand eine Fortführung der Förderanlage darum ausser Frage. Doch seit Wladimir Putin (70) mit der Ukraine-Invasion Europas Energieversorgung ins Taumeln zu bringen droht, werden Stimmen nach einem Strategiewechsel in Groningen laut. Ein Beamter der Nato rief erst kürzlich dazu auf, die Fördermengen sofort zu erhöhen. Sonst stehe Europa ein «harter Winter» bevor.
Davon will der niederländische Premierminister Mark Rutte (55) nichts wissen. Während einer Pressekonferenz in Prag am Freitag stellte er klar, dass die Niederlande die Gasproduktion in Groningen vorerst nicht fortsetzen würden. Zuvor hatte er auch Gerüchte dementiert, wonach ihn der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (64, SPD) um eine Produktionserhöhung gebeten habe. (ste)