Ein AHV-Rentner erreicht das ordentliche Pensionsalter, lässt sich sein Pensionskassengeld auszahlen und lebt damit in Thailand oder anderswo wie ein König. Bis das Geld aufgebraucht ist. Der Rentner kommt zurück in die Schweiz, wo ihm die AHV nicht zum Leben reicht – er kriegt fortan Ergänzungsleistungen (EL).
Solche Fälle lösten vor rund zehn Jahren eine Missbrauchsdiskussion aus – und waren Mitgrund für eine Reform des EL-Gesetzes. Sie trat 2021 in Kraft, danach galt eine dreijährige Übergangsfrist, in der Betroffene von den für sie vorteilhafteren Tarifen profitieren. Nun ist die Schonfrist vorbei.
Seit dem 1. Januar 2024 gelten die neuen Spielregeln für alle. Neben Rentnern, die sich ihren Lebensabend in Thailand versüssen, ist etwa auch die Familie von Marco B.* (52) aus der Zentralschweiz betroffen. Marco B.s Ehefrau ist IV-Rentnerin. Die vierköpfige Familie erhält EL, weil sein Einkommen für den Lebensunterhalt nicht reicht. Doch nun wurden der Familie die Ergänzungsleistungen um über die Hälfte gekürzt. «Jeden Monat muss ich mich entscheiden, welche Rechnungen ich bezahle und welche ich aufschiebe», erzählt Marco B.
Erben müssen EL zurückzahlen
Ergänzungsleistungen erhalten all jene, bei denen AHV oder IV nicht zum Leben reichen. Gemäss Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) bezieht jeder 8. AHV-Rentner EL. Bei den IV-Rentnern ist es jeder Zweite.
Weil die Bevölkerung immer älter wird und immer mehr Zeit in teuren Alters- und Pflegeheimen verbringt, explodieren die Kosten: 2022 (neuere Zahlen gibt es nicht) flossen laut BSV 5,5 Milliarden Franken in die EL. Vor 20 Jahren war es noch nicht einmal halb so viel. Mit der EL-Reform 2021 sollten gemäss damaligen Prognosen 453 Millionen Franken eingespart werden.
Dies unter anderem dank neuen Regeln zum Vermögen: Alleinstehende mit über 100'000 Franken auf der Seite sowie Ehepaare mit mehr als 200'000 Franken sind nicht mehr EL-berechtigt. Selbst bewohntes Wohneigentum wird dabei nicht einberechnet. Wer sein Vermögen unverhältnismässig verschleudert oder verschenkt (Stichwort Rentner in Thailand) und danach auf EL angewiesen ist, muss mit Kürzungen rechnen. Auch für Erben gibt es durch die Reform Änderungen: Sie müssen EL, welche Erblasser vor dem Tod bezogen, unter Umständen aus dem Erbe zurückbezahlen.
Im Fall von Familie B. sind es jedoch nicht die neuen Vermögensregeln, die den Unterschied machen: Sie haben gerade einmal 5000 Franken auf der Seite. Was bei ihnen zur massiven Kürzung führt, ist eine Neuregelung für Ehepaare, bei denen einer EL bezieht und der andere arbeitet. Bei der Berechnung des EL-Anspruchs fällt der Lohn des Ehepartners neu stärker ins Gewicht. Das führt im Einzelfall, wie bei Familie B., zu schmerzhaften Einschnitten.
«Reform hat Unsicherheit geschaffen»
Die EL-Reform 2021 war aber nicht einfach ein Sparprogramm: Es gab für Bezüger auch deutliche Verbesserungen, etwa was die Mietkosten für Familien angeht. Sie erhalten seither mehr Geld fürs Wohnen, was dem gestiegenen Mietpreisniveau Rechnung trägt. EL-Bezüger in Wohngemeinschaften hingegen erhalten seit der Reform weniger Geld für die Miete.
«Die Reform hat Unsicherheit geschaffen», kritisiert Daniel Schilliger (54), Rechtsanwalt bei Procap, einem Verband, der Menschen mit Behinderungen in sozialversicherungsrechtlichen Fragen unterstützt. «Die Leute fragen sich zum Beispiel, ob sie Quittungen sammeln müssen, um belegen zu können, dass sie ihr Geld nicht verprasst haben.»
Derweil steht die nächste Reform bereits in den Startlöchern: Diesmal geht es primär um Änderungen für EL-Bezüger in betreuten Wohnformen. Doch wenn es nach Procap und anderen Interessenvertretern geht, wird im Zuge der Revision gleich noch an weiteren Stellschrauben im EL-Gesetz gedreht. Es scheint vorprogrammiert, dass die neue Reform wieder zum politischen Zankapfel wird.
* Name von der Redaktion geändert