Sepp Schiesser* (78) hat von der Hiobsbotschaft über die Krankenkasse erfahren. Künftig müssen der ehemalige Postauto-Chauffeur und seine Frau mit weniger Ergänzungsleistungen (EL) auskommen. Konkret beteiligt sich der Kanton Tessin, in dem sie leben, neu weniger an den Krankenkassenkosten. Es geht um rund 350 Franken pro Monat, die plötzlich fehlen.
Für die Schiessers, die in diesem Artikel anonym bleiben möchten, ist das viel Geld. Mit AHV und Pensionskasse kommen sie auf einen Betrag von 4000 Franken, der ihnen im Monat zur Verfügung steht. Mit der EL-Kürzung bricht also fast ein Zehntel des monatlichen Budgets weg. «Bis jetzt konnten wir uns gut durchschlagen, wir haben nicht am Hungertuch genagt», sagt Sepp Schiesser. Doch nun macht er sich Sorgen.
Zehntausende Seniorinnen betroffen
So wie ihm geht es vielen Rentnerinnen und Rentnern. Seit Anfang Jahr gelten neue EL-Regeln. Die Reform hatte das Parlament schon vor Jahren beschlossen, jetzt endete auf den Jahreswechsel hin die Übergangsfrist zwischen altem und neuem Recht.
Um Anspruch auf EL zu haben, darf man neu beispielsweise noch weniger Vermögen als bisher haben. Zudem gibt es neue Höchstbeträge für Miete und Krankenkasse. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) schätzt, dass rund 70'000 Seniorinnen und Senioren, aber auch IV-Beziehende jetzt weniger EL erhalten.
Die Änderung kommt zu einer Unzeit. Schliesslich machen der Bevölkerung derzeit steigende Mieten, Lebensmittelpreise, Strom- und Benzinkosten zu schaffen. Sepp Schiesser ist verbittert. «Wenn es so weitergeht, werde ich wohl oder übel auswandern», sagt er. Er malt sich den Lebensabend auf Gran Canaria oder in Deutschland aus. Denn in Deutschland, begründet er, gäbe es Gemeinden, in denen Rentner kaum oder gar keine Steuern bezahlen müssten.
Ein Kaffee liegt nicht mehr drin
Auch Leser Roland Zaugg (65), der sich bei Blick gemeldet hat, denkt aufgrund der EL-Kürzung übers Auswandern nach. Nach 40 Erwerbsjahren in der Schweiz überlege er sich, ob er nicht besser ins Ausland ziehen sollte, schreibt er. Dorthin werden zwar keine Ergänzungsleistungen ausgezahlt, doch je nach Land ist die Schweizer Rente viel mehr wert.
Rentnern, die nahe oder unterhalb der Armutsgrenze leben, bleibt oft nichts anderes übrig, als noch stärker beim Essen oder dem Sozialleben zu sparen, um die EL-Kürzung aufzufangen. Ein EL-Bezüger erzählt, dass die 70 Franken, die er neu weniger erhalte, für ihn bedeuteten, dass der Kaffee, den er sich ab und zu auswärts gönne, nun nicht mehr drinliege. Auch das Zugbillett in die nächstgelegene Stadt oder neue Kleidung könne er sich nicht mehr leisten.
Es gebe auch Menschen, die als Sparmassname die Heizung runterstellten, sagt Peter Burri Follath von der Pro Senectute. Die Organisation bietet betroffenen Seniorinnen und Senioren Beratung an. Sie kritisiert unter anderem, dass die Beantragung von EL durch die Reform noch komplizierter und anspruchsvoller geworden sei.
Pro Senectute rechnet mit «sehr problematischen Härtefällen»
Noch hätten sich nur wenige von der EL-Kürzung Betroffene Hilfe suchend an die Pro Senectute gewandt, sagt Burri Follath. Viele hätten die Konsequenzen noch gar nicht richtig realisiert. Er geht aber davon aus, dass die Änderung zu «sehr problematischen Härtefällen» führen wird.
Die Kürzung tue weh, erzählt eine Betroffene, die ebenfalls nur anonym über ihre Situation sprechen möchte. Sie sei auf die EL angewiesen und müsse nun, weil knapp 300 Franken monatlich wegfallen, bei der Organisation «Tischlein deck dich» Lebensmittel beziehen. «Dass man bei uns spart, ist himmeltraurig.»
* Name geändert