Experte Werner Vontobel ordnet ein
Wie viel Markt erträgt die Wirtschaft?

Klar, ohne Markt geht es nicht. Die Frage ist bloss, wie viel davon wir brauchen – oder ertragen. Antworten liefert Blick-Kolumnist Werner Vontobel in einem neuen Buch.
Publiziert: 12.06.2021 um 14:44 Uhr
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1985 reichte Nicolas Hayek noch ein Telefon, eine Uhr und eine Weltkarte, um einen globalen Konzern zu leiten.
Werner Vontobel

Unsere Ur-Urahnen würden die Welt wohl nicht mehr verstehen: Geht’s vielleicht noch umständlicher? Bei ihnen galt damals: Bedürfnis erkennen, vor Ort anpacken. Teilen. Müsst ihr heute wirklich fünf Ausbildungen machen und 100 Bewerbungen schreiben,und dann noch eine Stunde Arbeitsweg bewältigen, bevor ihr arbeiten könnt?

Und warum kommen auf drei, die anpacken, noch sieben, die Offerten erstellen, Werbekampagnen entwerfen, Bilanzen erstellen, Rechnungen eintreiben oder Vermögen verwalten? Warum gibt es bei Euch viel mehr Büros als Fabriken und Werkstätte? Und stimmt es wirklich, dass bei Euch die Häuptlinge tausend Mal mehr verdienen als die, die produktiv arbeiten?

Verlockend lukrative, aber komplizierte Umwege

Unsere Ur-Urahnen haben nicht Ökonomie studiert. Ihnen fehlt die Gehirnwäsche, die uns begreifen und bejubeln lässt, dass jeder dieser Umwege das Bruttosozialprodukt steigert. Sie haben noch keinen Schimmer davon, wie gross das Heer der Arbeitslosen wäre ohne Finanzindustrie, Werbung, Umverteilungsbürokratie, Rechtsanwälte. Wenn nicht jedes Produkt fast zweimal um die Welt transportiert werden müsste. Das ganze System würde zusammenbrechen.

Stimmt. Die Ur-Urenkel haben recht – aus ihrer Perspektive. Doch genau das zeigt auch, dass wir uns in eine Sackgasse manövriert haben und betriebsblind geworden sind. Wir sehen hinter den Umwegen den Weg nicht mehr, vom Ziel ganz zu schweigen. Letztlich geht es doch darum, anzupacken, um die eigenen Bedürfnisse zu decken. Stattdessen spezialisieren wir uns darauf, das herzustellen, was wir gut können, und was andere – dank massiven Werbeaufwendungen – gern kaufen würden, sofern sie der Markt mit der nötigen Kaufkraft ausstattet. Was uns wiederum die Chance eröffnet, unsere Ansprüche mit Geld geltend zu machen. Ganz schön kompliziert.

Sanfte Landung ist möglich

Das bedeutet, dass wir uns die unbestreitbaren Vorteile der Spezialisierung mit einem Wirtschaftssystem erkaufen, das immer weniger auf unsere eigentlichen Bedürfnisse und auf die Signale der Umwelt reagiert, und immer mehr von der selbst geschaffenen monetären Nachfrage gesteuert wird. Peter Schilling hat dieses unheimliche Gefühl vertont und besungen: «Völlig losgelöst von der Erde, schwebt das Raumschiff...»

Diese Einsicht ruft nach einem neuen wirtschaftspolitischen Ansatz: Bevor wir den Markt weiter perfektionieren, müssen wir die Frage nach dem richtigen Verhältnis von Markt und der guten alten Anpacken-vor-Ort-Wirtschaft stellen. Welche unserer Bedürfnisse befriedigen wir am besten auf dem direkten Weg innerhalb von Familien, Nachbarschaften und Kooperativen? Und wo lohnt es sich, auf die Spezialisierung und auf den Koordinationsmechanismus des Marktes zu setzen?

In unserem Buch «Eine Ökonomie der kurzen Wege» haben wir uns genau diese Frage gestellt. Dabei haben wir auch die Vorzüge der Spezialisierung genutzt: Ich (Werner Vontobel) habe meine mittlerweile mehr als 50 Jahre Nachdenken über wirtschaftspolitische Fragen eingebracht. Der Kollege Fred Frohofer hat seine praktischen Erfahrungen in Kooperativen und Nachbarschaften (Kalkbreite) beigesteuert. Gemeinsam kommen wir zum Schluss: Eine sanfte Landung ist möglich.


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