Bei manchen Geschichten hilft es, die Vorgeschichte zu kennen. Diese hier ist so eine. Denn dass ein Artikel der Rubrik «Mann des Monats» sich in Text und Interview teilt, ist eine unbeliebte Komplikation. Doch Roberto Cirillo will sich nur in Form eines Interviews äussern – diese werden im deutschsprachigen Raum traditionell zum Gegenlesen vorgelegt, weil es sich um wörtliche Zitate handelt. Die Vorabklärungen gestalten sich aufwendig. Zwar hatte man im Vorfeld gehört, Cirillo schätze es, wenn ihm Pressesprecher das Gefühl vermittelten, sie hätten Journalisten «im Griff». Später erfahren wir allerdings, er bestehe grundsätzlich auf Wortlaut-Interviews und vermeide klassische Hintergrundgespräche.
Am Vorabend des Termins kommt eine Rückfrage der Medienstelle zu den (wie üblich) vorab eingereichten Themen: Was gemeint sei mit dem Punkt, dass im Geschäftsbereich Kommunikations-Services, der digitalen Speerspitze des Konzerns, mehrere Personalabgänge Aufsehen erregt hätten. Es folgt ein klärendes Telefonat, auch intern wurde wohl kommuniziert: Bereichschefin Nicole Burth checkt am selben Abend das LinkedIn-Profil des BILANZ-Journalisten.
Ein Kämpfer und Streiter
Was treibt Cirillo zu derartigen Absicherungsaktionen? Schlägt womöglich eine, bei seiner ersten Karrierestation McKinsey erlernte Sehnsucht nach Situationskontrolle durch? Was auch immer es ist: Beim Gespräch kämpft er weder mit Nervosität noch mit Fakten- oder Argumentationsschwäche, sondern lediglich mit seiner leicht heiseren Stimme, die er mit Tee besänftigt. Dennoch spricht er über eine Stunde lang ohne Pause, verteidigt seine Strategie und seinen Führungsstil, bleibt sachlich, aber eindringlich. «Er brennt für seinen Job, und für die Post würde Cirillo keinem Fight aus dem Weg gehen», sagt einer, der ihn beruflich gut kennt.
Der Mann kämpft also durchaus – aber auf anderen Feldern.
Immerhin, am Grundlegenden fehlt es der Schweizerischen Post nicht. Der Weltpostverein UPU, praktischerweise in Bern zu Hause, hat Cirillos Reich zum siebten Mal in Folge zur besten Post der Welt gekürt. Nicht aus Gründen falsch verstandenen Heimatschutzes, betont Jose Anson von der UPU, sondern «data-driven», weil man Zugang zu Milliarden Sendungsdaten hat – und die Schweiz punkto Geschwindigkeit und Verlässlichkeit der Dienstleistung, aber auch punkto Resilienz und Anpassungsfähigkeit an neue Umstände, wie Digitalisierung, ganz vorne rangiert.
Die UNO-Agentur UPU schätzt, dass eine funktionierende Post im Schnitt fast sieben Prozent zur Wirtschaftsleistung eines Landes beiträgt. Speziell im Land des «pinnacle of postal excellence», der Schweiz nämlich, sei der postalische Beitrag zum rechnerischen Pro-Kopf-Einkommen in etwa so viel wert wie die Kosten einer Premium-Krankenversicherung pro Person. Unter Cirillo wird also einiges richtig gemacht.
Doch die Zeit arbeitet gegen ihn. Das Briefmonopol, inzwischen nur noch für Briefe unter 50 Gramm gültig und punkto Umsatz noch für 14 Prozent des Post-Geschäfts verantwortlich, spielt immer noch nahezu die Hälfte des Gewinns der Post ein – transparent ist diese Zahl nicht, weil der Konzern Briefe und Pakete zum Grossbereich «Logistik-Services» verheiratet hat. Die düstere interne Prognose der Post lautet: Spätestens 2028 kann sie ihre Infrastruktur, im Wesentlichen das Netz an Poststellen, nicht mehr eigenständig finanzieren, sofern die Nachfrage nach Dienstleistungen weiter sinkt wie bisher – am Schalter summieren sich die Rückgänge auf zweistellige Prozentraten pro Jahr, bei den Briefen lagen sie zuletzt oberhalb von fünf Prozent.
Schrumpfendes Aufkommen
Die Bremsspuren fressen sich tief in die aktuellen Geschäftsberichte. Beim Umsatz hat Cirillo zwar den Schrumpfungsprozess stoppen können, doch die Gewinne halten nicht Schritt. Seit 2021 fallen die Betriebsergebnisse auf Stufe Ebit, auch im dritten Quartal 2023 zeigt die Kurve Richtung Süden. Gemäss Insidern brachten und bringen die zwei Preiserhöhungsrunden namens «Prime22» und «Prime24» eine gewisse Erleichterung, jedoch habe die Post vor allem im Paketbereich zu optimistisch geplant und die Wachstumsraten des Corona-Lieferbooms in die Zukunft projiziert. Die derzeit zurückgehenden Paketmengen würden sich wohl als vorübergehende Delle herausstellen – aber Rückgang bleibe Rückgang.
Dem gegenüber stehen die der Öffentlichkeit praktisch unbekannten Finanzziele der Post. Die vom Verwaltungsrat 2019 ausgearbeiteten, dann vom Eigentümer Bund abgesegneten Ziele für 2024 im Feld Briefe und Pakete sind zwar bereits 2022 erreicht worden – auch dank dem Corona-Boom, von dem der VR damals noch nichts ahnen konnte.
Doch die folgende, im Jahr 2022 erstellte längerfristige «Strategische Finanzplanung» bis zum Jahr 2030 nimmt sich erstaunlich viel vor. Auf satte 13,1 Milliarden Franken sollen die Umsätze steigen – im Jahr 2022 wies die Post erst 6,9 Milliarden Franken Umsatz aus. Zwar sind die beiden Grössen nicht ganz vergleichbar, weil die Post im Geschäftsbericht das Volumen der «Assoziierten» nicht mitrechnet; diese Bereiche, insbesondere ein Joint Venture mit der französischen La Poste, dürften für rund eine Milliarde Umsatz gut sein.
Dennoch: Allein die Logistiksparte soll von 5,2 auf über neun Milliarden Volumen in diesen Jahrenanschwellen und die fürs Digitale zuständige Sparte Kommunikations-Services nahe an eine Milliarde heranrücken. Cirillo rechnet demnach, bei steigenden Renditen, mit fast sechs Prozent durchschnittlichem Wachstum auf Konzernebene bis Ende des Jahrzehnts. Das Ganze soll gemäss den Planungen vor allem von der Zunahme der Paketmengen und von Ausweitungen im Feld Güterlogistik getragen sein – also von der punkto Grösse bereits jetzt dominanten Logistiksparte, die der junge Johannes Cramer führt. Er war zuvor Operationschef bei Digitec Galaxus und startete wie Cirillo seine Karriere beim Beraterhaus McKinsey.
Plausible Überprüfung
Um die Vorgaben zu erreichen, muss sich Cramer ordentlich strecken. Weil die Logistik schwächere Margen aufweist als das schrumpfende Briefgeschäft, muss er diesen Rückgang umsatzmässig überkompensieren. Verbunden mit dem Neuaufbau der Digitalsparte, hat die Post daher eine regelrechte Shoppingtour für anorganisches Wachstum gestartet, inzwischen rund 30 Firmen übernommen oder Mehrheitsanteile erworben, den Löwenanteil in Cramers Sparte.
Diese Zukäufe riefen die Politik auf den Plan, vor allem die Bürgerlichen, die «mit diversen parlamentarischen Vorstössen und einer Diskussion zur Grundsatzfrage der strategischen Weiterentwicklung der Post» öffentliche Vorbehalte formulierten, klagt der Post-Verwaltungsrat in einem Schreiben an den Bundesrat, sodass der VR zur eigenen Absicherung die Umsetzung der Strategie «Post von morgen», also auch die Zukäufe, überprüfen liess.
Diese «Umsetzungsreview» übernahm die Beratungsfirma Bain, und die folgende «Plausibilisierung» der Review besorgte Roland Berger. Das Fazit der Berger-Experten: Grundsätzlich sind die Ziele erreichbar. Matthias Hanke, Partner bei Roland Berger und Europa-Chef für den Fachbereich Transportation, sagt: «Aus unserer Sicht macht die Strategie absolut Sinn.» Ein hoher Pöstler fasst sie griffig zusammen: Vom Wachstum der Paketmengen profitieren, weiter täglich ausliefern und bei der Güterlogistik in den Nachbarländern, von den grossen Seehäfen der Benelux-Staaten bis Genua, mit eigenem Transportgerät operieren.
Es komme aber sehr «auf die Umsetzung an: aus den einzelnen Zukäufen erfolgreich ein grosses, integriertes Ganzes zu formen», sagt Hanke. Wie Aussenwerber Livesystems, ein Anbieter von wiederverwendbaren Versandtaschen namens Kickbag und zahlreiche Speditionen im In- und Ausland zusammengeführt werden können, das muss Cramer nun vorführen. Der Prozess startet gerade erst.
Cirillo soll den jungen, mächtigen Spartenchef – er verwaltet rund zwei Drittel des Umsatzes und praktisch sämtliche Gewinne der Post – kritisch beäugen: Cramer verbringt Insidern zufolge viel Zeit in Hamburg, auch seine Familie soll dort leben. Der erwartete Umzug in die Schweiz, raunt ein Mitarbeiter, habe bisher wohl nicht stattgefunden; angeblich kein Quell der Freude für den komplett fokussierten Cirillo, der sich ausser gelegentlichen Reisen kaum Ausgleich von der Arbeit gönnt, sich weder für sportliche noch für kulturelle Interessen Zeit nimmt und seine ersten Termine in die frühen Morgenstunden legt.
Digitales «trial and error»
Deutlich grösser sind jedoch die Fragezeichen im Bereich Kommunikations-Services (KS), der die Post der Zukunft aufbauen soll: verlässlichen Informationstransport im digitalen Raum. Doch da herrsche noch «ein rechter Wildwuchs», sagt ein Branchenmanager. Rund um die Schwerpunkte SwissID (digitales Login), Klara (Unternehmensbetriebssoftware), E-Voting und elektronisches Patientendossier gruppieren sich Angebote zur Cybersicherheit, zu digitalen Kundenberatungsplattformen oder virtuellen Generalversammlungen.
Da passe vieles nicht zusammen, kritisiert ein Beobachter, Strategie sei keine erkennbar. In der IT-Branche werde gelästert, die Post kaufe einfach mal, was sich anbiete, und schaue erst dann, ob man daraus etwas machen könne – und ob es zu den anderen Zukäufen passt. Andere Beobachter wiegeln ab, KS sei ja noch «sehr in den Anfängen», da müsse man abwarten, und «ein gewisses Mass an Trial and Error» sei hier ganz normal.
Doch selbst in den wichtigsten und halbwegs etablierten Anwendungen harzt es. Nicht erst, seit die Bundesverwaltung, mit Rückendeckung einer Volksabstimmung, beschlossen hat, den elektronischen Pass «E-ID» selbst herauszugeben, sucht die Post nach Einsatzmöglichkeiten für ihre SwissID – sie hat zwar die stolze Nutzerzahl von über vier Millionen, doch vor allem, weil die Post ihre SwissID für die eigenen Onlinedienste verlangt.
Das E-Voting, das nur wenige Male pro Jahr benötigt wird, kann kaum zur Cash Cow avancieren, und das elektronische Patientendossier benötigt dringend technische Auffrischungen; aktuell gleicht es, so ein Insider, «einem aufwendig zu bedienenden PDF-Friedhof». Und ohne staatlich garantierte Konkurrenzfreiheit sei es als Geschäftsmodell nicht wirklich attraktiv.
Hinzu kommt, dass KS-Chefin Nicole Burth nicht durchgängig als Idealbesetzung gilt. Zwar erwarb sie einen Ruf als begabte Netzwerkerin, doch je nach Beobachter oszilliert ihr Führungsstil zwischen «hemdsärmelig» und «traut sich, die relevanten Themen anzusprechen» bis hin zu «vorlaut», «dominant» und «mit dem Zweihänder unterwegs». Der Abgang der Leiter E-Health-Services und E-Voting, zweier Schlüsselfiguren also, hat nicht wenige Mitarbeiter verstört. Immerhin wächst ihr Umsatz und hat inzwischen die Vorsteuerverluste überholt.
Das Grundproblem, ätzt ein hochrangiger Pöstler, sei ein Strategiedefizit: KS hoffe auf staatliche Grossaufträge, doch zugleich fehlten die Ideen für Anwendungen, die Bürger wirklich intensiv nutzen würden – sogenannte Killer-Applikationen. Dass all die Zukäufe «eigene Technologie-Stacks und eigene Firmenkulturen mitbringen, erschwert es zusätzlich», und diverse Vorstösse, etwa zum digitalen Postfach, kämen mehrere Jahre zu spät. Letztlich stellt sich auch die ordnungspolitische Frage: Soll die Post nur Lücken füllen, die Private nicht bedienen, oder darf sie auch am Markt gegen andere antreten?
Dieses Dilemma könnte die Zukunftsperspektiven des gelben Riesen entscheiden. Der Bund verortet die Post als privatwirtschaftlichen Akteur, grosse Teile der Politik und Wirtschaft sehen in ihr jedoch einen staatlichen Player, der «echten» Unternehmern ungebührliche Konkurrenz macht.
Die Konsequenzen dieser Zwickmühle zeigen sich etwa an der erfolglosen Suche nach einem neuen CEO für die Postfinance, der die Politik keine volle Banklizenz zugesteht. Oder an der Hängepartie über die Verkleinerung des Netzes an Poststellen – so notwendig wie unpopulär. Netz-Chef Thomas Baur, der den Mangel verwalten muss, gilt als Vertrauter des Konzernbosses, wurde zudem zum stellvertretenden CEO befördert. Doch Cirillo will diesen Kostenblock in der kommenden Strategieperiode angreifen.
Er neige zwar zu gelegentlichen emotionsgetriebenen Spontan-Eingriffen, führe aber grundsätzlich via Vertrauen und auf Armlänge, solange alles funktioniert. Dass passend dazu die Konzernbereiche als eigene AGs firmieren, mache schon Sinn, sagt ein Branchenexperte, denn die Geschäftsmodelle seien komplett verschieden. Andererseits sollen sich Kunden beklagen, dass heute Heerscharen von Sales-Leuten der Post bei ihnen antichambrieren, während früher ein einzelner Verkäufer das gesamte Post-Inventar im Sortiment hatte. Und dass die Post nach wie vor zu sehr ihren eigenen Prozessen folge als den Bedürfnissen der Kunden.
Wie viel Beinfreiheit Cirillo in Zukunft hat, wird sich an den kommenden Weichenstellungen erweisen: Die Definition der Vorgaben für die nächste Strategieperiode, die von 2025 bis Ende 2028 reicht, läuft bereits. Zudem steht die Überarbeitung der Anforderungen an die Grundversorgung vor der Tür. Daran wird die Post ablesen, ob sie bei ihrem Umbau Richtung Moderne und Eigenwirtschaftlichkeit auf die Hilfe von Politik und Verwaltung zählen kann. Oder ob Bern sie allein lässt.
Analytischer Ingenieur
Im Konzern agiert Roberto Cirillo als Teamplayer. Zum Antritt soll er erfolgreich um Unterstützung der obersten Manager geworben haben; Vorgängerin Susanne Ruoff, erzählt ein Post-Mann, war in der Konzernleitung regelmässig aufgelaufen – vor allem an den inzwischen ausgeschiedenen Post-Granden Ulrich Hurni und Dieter Bambauer. Cirillo gilt als hoch motiviert und als unabhängiger Kopf, von dem nicht wenige sagen: Er suchte die Herausforderung in einem derart von Stakeholdern bedrängten Umfeld – doch bremse ihn die Politik zu sehr ein, werfe er womöglich trotzdem noch hin.
Roberto Cirillo hat eigentlich blendende Voraussetzungen als Post-Chef: Der Tessiner spricht die drei Landessprachen, hat bei der französischen Sodexo Grosskonzern-Führungserfahrung gesammelt und bringt als ETH-Maschineningenieur hohe analytische Fähigkeiten mit; das gestehen ihm auch Skeptiker zu. Ausserdem seien ihm Inklusion und Bodenständigkeit wichtig: Sein Vater verdingte sich auf dem Bau, seine Schwester soll mit Behinderten arbeiten. Und nachdem ihn beim Antritt praktisch niemand gekannt hat, gilt er inzwischen als gut vernetzt – nicht jedoch als Cüplimanager, schon gar nicht als Heimatschützer.
Ob ihm der Umbau der Post zur dauerhaften, digitalisierten Gewinnmaschine bis 2030 gelingt? Im Interview sagt Roberto Cirillo: «Ja, wir schaffen es!» Roland Berger empfiehlt, bereits in den kommenden zwei Jahren genau hinzuschauen, ob die geplanten Wachstumsfelder Logistik und Digitales tatsächlich Kunden finden, und ob die Übernahmen Sinn machen und anschliessend sinnvoll integriert werden können.
Mit ziemlicher Sicherheit bringen wir dann wieder einen Artikel. Vermutlich wird es ein Interview.