Ein Blumenstrauss und eine nette Karte waren nicht genug. Zur Abdankung des einst beliebtesten Bankers der Nation musste es schon ein 123 Seiten dickes Buch sein.
«Dr. Pierin Vincenz: Bergler und politischer Banker» nennt sich die Festschrift, die im Herbst 2015 veröffentlicht wurde. Darin übertrumpft sich das Who’s who der Schweizer Wirtschaft und Politik mit Lobeshymnen auf den langjährigen Raiffeisen-Chef.
Das Vorwort schrieb kein Geringerer als der damalige Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann (68). Am euphorischsten äusserte sich jedoch CVP-Ständerat Pirmin Bischof (61, SO): «Was die Heiligen für die katholische Kirche bedeuten, ist Pierin Vincenz bis zu einem gewissen Grade für die Schweizer Finanzbranche.»
Der sympathische Bündner
Die Medien – SonntagsBlick inklusive – waren Vincenz und seiner Raiffeisen ebenfalls meist positiv gesinnt. Neben den Grossbanken und ihren unzähligen Negativschlagzeilen (Millionen-Boni für Manager, Milliarden-Rettung durch den Bund, Schwarzgeld-Skandale) war der kumpelhafte Genossenschaftsbanker mit dem sympathischen Bündner Dialekt eine willkommene Abwechslung.
Zudem hat Vincenz in seinen fast 17 Jahren als Raiffeisen-Chef zweifelsohne Grosses erreicht: Er machte die Gruppe zur unbestrittenen Nummer drei im Land, im Hypothekargeschäft gar zur Nummer eins.
Zudem erkannte er als einer der Ersten in der Schweizer Finanzbranche, dass das Geschäft mit unversteuerten Geldern aus dem Ausland keine Zukunft haben wird.
Der Zürcher «Tages-Anzeiger» resümierte deshalb zu Vincenz’ Abschied: «Mit Schlauheit und mutigen Entscheiden gelang es ihm, zu jener Stimme zu werden, auf die auch die Politik hört.» Und weiter: «Im Unterschied zu den Chefs der beiden Grossbanken schaffte es der Bündner als grosse Ausnahme, sich ein Image als Sympathieträger des Finanzplatzes zu bewahren.»
Autor dieser Zeilen: Lukas Hässig, mittlerweile selbständiger Journalist und Betreiber des Finanzportals «Inside Paradeplatz».
Es war Hässig, der mit seinen Enthüllungen dafür gesorgt hat, dass vor wenigen Tagen ein weiteres Werk zu Vincenz’ Wirken erschienen ist. Dieses soll gar 356 Seiten dick sein – allerdings weniger schmeichelhaft. Autor: die Staatsanwaltschaft für Wirtschaftsdelikte des Kantons Zürich.
Drei Monate U-Haft
Ende Oktober hat die Staatsanwaltschaft die Strafuntersuchung gegen Vincenz und dessen langjährigen Geschäftspartner Beat Stocker (60) abgeschlossen – nach fast dreijähriger Untersuchung inklusive 106-tägiger Untersuchungshaft im Frühsommer 2018.
Resultat: Anklage wegen gewerbsmässigen Betrugs, Urkundenfälschung und passiver Bestechung. Vincenz und Stocker sollen sich bei diversen Firmenkäufen durch Raiffeisen sowie der Kreditkartenfirma Aduno – wo beide im Verwaltungsrat sassen – persönlich bereichert haben.
Die einzelnen Sachverhalte sind äusserst komplex. Im Kern geht es aber immer um die gleiche Frage: Haben Vincenz und Stocker auf ungerechtfertigte Weise abkassiert, indem sie auf beiden Seiten des Verhandlungstisches sassen? Agierten sie als Käufer und Verkäufer, ohne dies offenzulegen? Und ist Raiffeisen und Aduno dadurch ein Schaden entstanden?
Die Staatsanwaltschaft muss nun versuchen, die Richter genau davon zu überzeugen. Ein Kinderspiel wird das nicht, sind sich Juristen einig. Ein erfahrener Strafrechtsexperte gibt zu bedenken: «Der Staatsanwalt muss im Zweifelsfalle Anklage erheben gegen die Beschuldigten. Das Gericht dagegen muss die Beschuldigten im Zweifelsfalle freisprechen.»
Wann der Prozess beginnt, ist noch unklar. Es wird aber mit Sicherheit 2021, lässt das Gericht ausrichten.
Ist der Ruf erst ruiniert...
Doch ganz unabhängig davon, wie das Gericht dereinst entscheiden wird: Seinen guten Ruf hat Pierin Vincenz längst verloren. Denn selbst wenn seine Vorabbeteiligungen strafrechtlich nicht relevant sein sollten: die feine Art, Geschäfte zu machen, sind sie definitiv nicht.
Auch sein Image als stets lächelnde Unschuld vom Lande ist Vincenz spätestens seit dieser Woche los. In der Anklageschrift, die eigentlich noch unter Verschluss ist, werden nämlich auch zahlreiche Spesenbezüge aufgeführt, die Vincenz zum Nachteil von Raiffeisen und Aduno bezogen haben soll.
251'000 Franken davon sollen für Champagner, Cabaret-Besuche und Stripperinnen draufgegangen sein – bezahlt mit der Firmenkreditkarte. Das machte «Inside Paradeplatz» diese Woche publik. Aufgelistet werden gegen zwanzig einschlägige Etablissements in der ganzen Schweiz.
Doch damit nicht genug. Auf der Spesenabrechnung erscheint gemäss dem Portal auch ein weiteres pikantes Detail: die komplette Reparatur der Suite 507 im Zürcher Park Hyatt Hotel für 3778 Franken.
Dort sei es in der Nacht vom 11. auf den 12. Juni 2014 zu einem heftigen Streit gekommen. Gemäss Recherchen von BLICK hat sich Folgendes zugetragen: «Offenbar hatte der Starbanker ein Puff in seiner Agenda. Denn als seine Herzdame plötzlich im Zimmer stand, vergnügte sich der Banker schon mit einer anderen Dame. Die Situation eskalierte. Quellen sprechen von Handgreiflichkeiten und Mobiliar, das in die Brüche ging.»
Das passt so gar nicht zum bodenständigen, bescheidenen und sympathischen Banker aus den Bergen.
Wobei nicht unerwähnt bleiben soll: Ein Bündner Bub aus einem kleinen Bergdorf war Vincenz ohnehin nie – auch wenn er sich gerne so darstellte. Seine Familie stammt zwar aus dem schmucken 200-Einwohner-Dörfli Andiast in der Surselva. Er selbst ist aber unweit des Bahnhofs Chur aufgewachsen.
Auch sonst hätte Vincenz’ Biografie eigentlich nie zum Image des Aussenseiters und Aufsteigers gepasst: Sein mittlerweile verstorbener Vater war Ständerat des Kantons Graubünden – und präsidierte von 1984 bis 1992 den Verwaltungsrat des Schweizer Verbands der Raiffeisenkassen. Vincenz selbst wiederum begann seine Finanzkarriere als Investmentbanker in den USA.