Anzeige gegen Unbekannt wegen geleakter Anklageschrift
Wird Spesen-Striptease für Vincenz zum Vorteil?

Die Justiz tut alles, um die Anklage gegen den Ex-Raiffeisen-Chef geheim zu halten. Strafrechtler glauben, das Gericht schütze sich damit auch sich selbst.
Publiziert: 08.11.2020 um 15:37 Uhr
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Aktualisiert: 08.11.2020 um 19:04 Uhr
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Laut der Anklageschrift hat sich Pierin Vincenz gern in Cabarets vergnügt.
Foto: Philippe Rossier
Thomas Schlittler

Ein Fall wie jeder andere? Ganz und gar nicht: Am Dienstag gab die Staatsanwaltschaft für Wirtschaftsdelikte des Kantons Zürich bekannt, dass sie Anklage erhebt gegen Pierin Vincenz (64), dessen langjährigen Businesspartner Beat Stocker (60) sowie fünf weitere Personen.

Ihnen werden gewerbsmässiger Betrug, Veruntreuung, Urkundenfälschung sowie passive Bestechung vorgeworfen. Die Anklageschrift bleibt jedoch unter Verschluss. Mehr noch: Die Staatsanwaltschaft hat alle Involvierten – Kläger, Beschuldigte, Zeugen – verpflichtet, über Informationen aus den Untersuchungs­akten zu schweigen. Wer sich nicht an diese Geheimhaltungsverfügung hält, riskiert eine Verurteilung wegen «Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen». Konkret: eine Busse.

Und doch wusste der BLICK bereits am Mittwoch: Pierin Vincenz soll für sechs Jahre ins Gefängnis.

Tags darauf enthüllte das Finanzportal «Inside Paradeplatz» weitere Details: «Für Redlight-Spass liess Ex-CEO seine Raiffeisen eine Viertel Million zahlen, 140'000 für Anwälte – und 3788 Fr. für Reparatur Hyatt-Suite.»

Strafanzeige gegen unbekannt

Am Freitag reagierte das Bezirksgericht Zürich auf die Indiskretionen: «Da dem Gericht Hinweise vorliegen, dass gegen die Geheimhaltungs­verfügung verstossen wurde, wird Strafanzeige gegen un­bekannt erstattet.»

Der Eifer der Behörden, die Anklageschrift für sich zu behalten, ist höchst ungewöhnlich. Selbst die zuständige Staatsanwaltschaft räumt gegenüber SonntagsBlick ein, dass eine solche Geheim­haltung «nicht oft» verlangt werde. Sie rechtfertigt das ­Vorgehen mit dem «Persön­lichkeitsschutz» der beschuldigten Personen. Das Bezirksgericht wiederum hält die Herausgabe der Anklageschrift wegen der Unschuldsvermutung, die «vorbehaltlos für alle Beschuldigten» gelte, für «nicht vertretbar».

Adrian Ettwein (58), von 2002 bis 2015 Staatsanwalt des Bundes im Bereich kriminelle Organisationen, Börsen- und Wirtschaftsdelikte, vermutet hinter dem Vorgehen der Behörden eine Art Selbstschutz: «Je mehr Details der Anklage in den Medien ausgebreitet und bewertet werden, desto höher ist die Gefahr einer öffentlichen Vorverurteilung – und das kann für das Gericht zu einer schwierigen Situation führen.»

Befangene Richter?

Die Verteidiger von Vincenz könnten geltend machen, die Richter seien nicht mehr in der Lage, objektiv zu entscheiden. «Das Gericht sähe sich dem Vorwurf der Befangenheit ausgesetzt.»

Auch der erfahrene Zürcher Strafverteidiger Andreas Josephsohn (58) hält es für plausibel, dass die Geheimhaltung dazu dienen soll, das Gericht vor dem Verdacht der Befangenheit zu bewahren. «Es kommt in der Schweiz viel ­öfter vor als früher, dass die Unbefangenheit eines Gerichts wegen der Medienberichterstattung angezweifelt wird.»

Seines Erachtens mache es aber wenig Sinn, dies vorab auf Halde zu tun. «Erfolgsver­sprechender ist ein solches Vorgehen, nachdem das Urteil gesprochen ist – also wenn es darum geht, den Fall weiter­zuziehen.» Das bringe unter Umständen zusätzlich einen Zeitgewinn – und könne im ­Zusammenhang mit der Verjährung gewisser Delikte von Vorteil sein.

Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass schon jetzt ausführlich über Pierin Vincenz’ angebliches Sündenregister berichtet wird, könnte dem ­gefallenen Top-Banker am Ende in die Karten spielen – zumindest vor Gericht.

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