Nichts ist träger als die Schweizer Politik. Es sei denn, die Eidgenossen fürchten einen Stromausfall. Dann geht in Bundesbern die Post ab. Sparappelle, Ausschreibungen für Wasserkraftreserven, ein Notkraftwerk im Aargau, alpine Solaranlagen im Wallis, die Erhöhung der Grimsel-Staumauer – über Nacht haben Bundesrat und Parlament den Vorschlaghammer gezückt, um die Energieversorgung des Landes zu retten.
Und das sind nur die Sofortmassnahmen für die kommenden drei Jahre. Das Parlament entwickelte in der Herbstsession einen solchen Schub, dass es im sogenannten Mantelerlass zur Stromversorgungssicherheit gleich noch die langfristigen Ausbauziele für die erneuerbaren Energien nach oben schraubte: Im Jahr 2035 soll die Solarkraft 35 Terawattstunden Strom erzeugen, im Jahr 2050 müssen es 45 Terawattstunden sein. Heute sind es zwei Terawattstunden. Gleichzeitig will das Parlament den Energieverbrauch pro Kopf bis 2050 halbieren.
Beschleunigungsvorlage
Das würde auch dem Klima dienen – um das sich die Abgeordneten zusätzlich im indirekten Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative gekümmert haben. Dort steht drin: Bis 2050 darf die Schweiz unter dem Strich keine Treibhausgase mehr verursachen. Für die Unternehmen gibt es Netto-Null-Pläne. Hinzu kommt die Beschleunigungsvorlage für erneuerbare Energien, an deren Botschaft Bundesrätin Simonetta Sommaruga (62) gerade arbeitet. Fertig ist sie mit ihrem neuen Anlauf zur Revision des CO2-Gesetzes. Die Vorlage geht morgen ins Parlament. Den Anfang macht die Energiekommission des Ständerats.
Die neue CO2-Vorlage fällt zahnloser aus als die letzte, die 2021 vom Volk bachab geschickt wurde. Die Abgabe für fossiles Heizen bleibt bei 120 Franken pro Tonne CO2. Der Aufschlag für Benzin und Diesel hingegen beträgt nicht mehr maximal zwölf, sondern fünf Rappen pro Liter. Und die Flugticket-Abgabe ist vom Tisch, vorerst jedenfalls. Es ist nämlich gut möglich, dass das Parlament die Vorlage aggressiver formuliert, falls das Volk im Sommer 2023 den Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative annimmt. Zur Abstimmung kommt es, weil die SVP das Referendum ergreift.
Alles gleichzeitig in verschiedenen Vorlagen
Ausbauen, sparen, senken, lenken, fördern – jetzt kommt alles gleichzeitig, in diversen Vorlagen mit je eigenen Schwerpunkten und Zeithorizonten, mal in Form von Zielen, mal als Massnahmen, finanziert aus so unterschiedlichen Quellen wie Netzzuschlag, CO2-Abgabe und Steuern. Die Subventionsmilliarden fliessen in Solaranlagen, Stausee-Projekte, Gebäudeprogramme, Ladestationen für E-Autos und technologische Innovationen.
Jahrelang kam die Schweizer Energie- und Klimapolitik nicht vom Fleck. Jetzt produzieren Bundesrat und Parlament in kürzester Zeit einen Energie-Salat, der vor Zutaten nur so strotzt. Aber ist er auch verträglich?
«Überbordernde Ziele»
«Das sind Baustellen ohne gegenseitige Abstimmung», sagt der Walliser SVP-Nationalrat Michael Graber (41), Präsident des Referendumskomitees gegen den indirekten Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative. «Die Energiestrategie ist gescheitert. Jetzt dreht man hektisch an allen möglichen Schrauben, weil man hofft, die Ziele doch noch irgendwie erreichen zu können. Koste es, was es wolle.»
Das sehe man schon an Stressbegriffen wie «Rettungsschirm» oder «Dringliches Bundesgesetz», sagt Graber. «So ist es gekommen, dass der Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative überbordende Ziele fixierte, bevor der Mantelerlass überhaupt in trockenen Tüchern ist. Dabei beantwortet erst dieser die Frage, wie die Energie zur Erreichung der Ziele produziert werden soll.»
Wer steuert den komplizierten Plan?
Anthony Patt (57) ist ETH-Professor für Klimapolitik. Er hat Energieministerin Sommaruga bei der Ausarbeitung der CO2-Vorlage beraten. Patt sagt: «Auf den ersten Blick ist es tatsächlich ein Durcheinander. Aber die verschiedenen Vorlagen ergänzen sich gut.» So regle das CO2-Gesetz die Energienutzung und die Effizienz bis 2030. Der Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative tue das Gleiche für die Jahre von 2030 bis 2050. «Die Solaroffensive und die Beschleunigungsvorlage wiederum kümmern sich um die kurzfristige, der Mantelerlass um die langfristige Energieversorgung.» Es gehe sogar noch weiter, sagt Patt: «Was alle Vorlagen überspannt, sind die identischen Ziele. Es dreht sich immer darum, die Kapazitäten auszubauen, weniger Energie zu verschleudern und die Abhängigkeit von fossiler Energie zu beseitigen.»
Klingt nach einem Plan. Bloss: Wer steuert ihn? «Letztlich das Parlament», sagt Stefan Batzli (56), Geschäftsführer des Wirtschaftsverbandes AEE Suisse. «Aber Bundesrätin Sommaruga ist sehr präsent, gerade in den Ratsdebatten. Sie moderiert die Diskussion, führt sie kompetent und zielorientiert.»
Druck aus dem Parlament wächst
Grünen-Ständerätin Lisa Mazzone (34) stimmt dem nur bedingt zu: «Der Schub im Parlament ist nötig geworden, weil der Bundesrat nicht genügend Initiative zeigte. Erst der Druck durch die Gletscher-Initiative und die Reaktion des Parlaments haben für das nötige Tempo gesorgt.»
Druck aus dem Parlament ist auch beim CO2-Gesetz zu erwarten. «Es braucht klare Zeitpläne und auch Verbote, um aus den fossilen Treibstoffen und Heizungen auszusteigen», sagt Lisa Mazzone. «Über die Flugticket-Abgabe müssen wir ebenfalls noch einmal diskutieren.» Umstritten ist ausserdem, ob die Abgabe fürs Heizen mit 120 Franken pro Tonne CO2 hoch genug ist. Und schliesslich sind längst nicht alle einverstanden mit der neuen Regel, dass nur noch die Hälfte der Einnahmen wieder zurück an die Bevölkerung und die Wirtschaft fliessen soll.
Klar ist: Übersichtlicher wird das Energie-Menü in naher Zukunft nicht.