Debatte um Alk-Tabu der Migros entbrannt – Unternehmensberater Klaus Stöhlker kritisiert
«Ich halte es für einen sträflichen Fehler»

Sollen die Migros-Supermärkte vom Alkoholverbot abrücken und Bier und Wein wie die Konkurrenten verkaufen? Die Delegierten des Migros-Genossenschaftsbunds haben dafür schon mal grünes Licht gegeben. Jetzt liegt der Ball bei den zehn regionalen Genossenschaften.
Publiziert: 08.11.2021 um 10:24 Uhr
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Gottlieb Duttweiler (1888-1962), Migros-Gründer mit seiner Frau Adele.
Foto: Keystone

Die Delegierten haben entschieden. Jetzt liegt der Ball bei den zehn regionalen Genossenschaften, dann haben die rund 2 Millionen Genossenschafterinnen und Genossenschafter das letzte Wort. Die Debatte um die Abkehr vom Verkaufsverbot von Alkohol bei der Migros hat Fahrt aufgenommen.

Ob Migros-Kind oder nicht. Jede und jeder hat eine Meinung, wenn es um den Alkoholverkauf bei der Migros geht. Dass es kein Bier, keinen Wein oder Champagner in den Regalen der Supermärkte mit dem orangen M gibt, hat Tradition. Der Verzicht gehört zu den Grundwerten des Dutti-Konzerns, ein Alleinstellungsmerkmal weit über die Landesgrenzen hinaus.

«Die Migros ist kein gewöhnliches Unternehmen. Sie ist eine nationale Institution. Zum Wohle der Gesellschaft auf Alkohol- und Tabakverkauf zu verzichten. Eine Traumpositionierung. Besser geht es nicht», sagt Thierry Kneissler. Seine Analyse zur Aufgabe vom Migros-Alkoholverbot teilt der ex-Chef der Bezahlapp Twint auf dem Karriereportal Linkedin.

Experte: Image niemals gefährden

Kneissler, heute Dozent und Strategieberater, sagt zum Migros-Alkoholverkauf: «Ich würde das nicht tun.» Erstens schwimme die Migros im Geld (Eigenkapital von 17 Milliarden Franken, ohne Bank), «warum braucht es immer mehr?». Und zweitens sei das Image Migros' Kapital. «Das würde ich niemals gefährden».

Gemäss seiner Analyse sei der Detailhandel der Migros «wesentlich rentabler» als der von Coop. Der Rivale ist einer der führenden Alkoholverkäufer der Schweiz. Wenn die Migros wachsen wolle, müsse sie mehr kleine Läden nahe bei den Leuten eröffnen, auf deren Bedürfnisse ausgerichtet. Laut Kneissler braucht es den Alkoholverkauf nicht, um zu wachsen. «Die DNA über Bord werfen für ein paar Franken Umsatz» macht aus seiner Sicht keinen Sinn.

Ex-Migros-Boss: «Gefahr der Spaltung»

Kein Kritiker, aber skeptisch ist Ex-Migros-Boss Herbert Bolliger. Im Interview mit der «Handelszeitung» sagt er zum Alkoholverkauf in der Migros: «Ich war immer skeptisch. Bei solchen Grundsatzfragen besteht die Gefahr der Spaltung, wie bei Glaubenskriegen gibt es am Schluss nur Verlierer.»

Das Thema werde nun unweigerlich immer wieder hohe mediale Wellen schlagen. Unnötig, findet Bolliger. «Ich würde mir wünschen, dass sich die regionalen Führungsgremien mit einer anderen Frage auseinandersetzen würden: Ist die Organisation mit zehn rechtlich selbstständigen Regionalgenossenschaften noch effizient für den relativ kleinen Markt Schweiz?» An die mächtigen Regionalgenossenschaften gerichtet sagt Bolliger: «Hört auf mit diesem Rumschieben von Umsatz, am Schluss muss es für die ganze Gruppe aufgehen.»

Werber Wildberger spricht von Fehler

Auch Werber Thomas Wildberger schaltet sich in die Debatte ein. Er hatte 2018 die erfolgreiche Werbekampagne «Die Migros gehört den Leuten» gemacht. Im «Tages-Anzeiger» sagt er, es sei ein Fehler, das Alkoholverbot aufzugeben. «Die Migros gibt ihren strategischen Vorteil leichtfertig auf – ohne Dringlichkeit.» Das Alleinstellungsmerkmal habe sie beliebt und populär gemacht.

Weiter geht Unternehmensberater Klaus Stöhlker. «Kapitalismus frisst Migros-Seele», titelt er seinen Betrag auf der Finanzinside-Plattform «IP». Die Aufgabe des Alkoholverbots «offenbart Rückstand des Orangen Riesen im Wettstreit mit Coop, Lidl und Aldi. Weinhändler werden, Feld verteidigen.»

Berater Stöhlker zur Migros-Seele

Der Schweizer Kunde sei bei weitem nicht mehr der gleiche wie vor dreissig Jahren. «Im Land sind 30 bis 40 Prozent Ausländer der ersten und zweiten Generation tätig, die nicht die gleiche Markenbindung kennen, wie es bei ‹Ur›-Schweizern der Fall ist», so Stöhlker. «Diese Neu-Schweizer wollen gute Qualität zu guten Preisen. Die Migros-Seele haben sie nie kennengelernt.»

Stöhlker: «Für einen sträflichen Fehler halte ich es, die Migros-Seele leichtfertig geopfert zu haben. Heute verlangen gerade die anspruchsvollen Konsumenten Produkte, die eine ‹Seele› haben, seien es französischer Käse oder ‹Sneakers› aus China und Thailand. Ein Unternehmen mit Seele, gross oder klein, liefert den Kunden einen Mehrwert, der hoch geschätzt wird.»

Die Migros-Kenner und Experten erwarten nun, dass es zur Schlacht auf dem Weinmarkt kommt, sollte Anfang Juni 2022 die Urabstimmung bei den Genossenschafter ebenfalls grünes Licht für den Alkoholverkauf ergeben. Erstmals Bier und Wein könnte es im Verlauf des Jahres 2023 geben. (uro)


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