Wer eine Banklehre macht, lernt gleich zu Beginn die volkswirtschaftlichen Aufgaben der Finanzindustrie:
1. Die Vermittlung von Geld – also die Bereitstellung von Kapital und Krediten.
2. Die Übermittlung von Geld – also die Gewährleistung des (elektronischen) Zahlungsverkehrs.
3. Die Aufbewahrung und Anlage von Geld – also die Vermögensverwaltung.
So viel zur Theorie. Angesichts der aktuellen Geschehnisse rund um die Credit Suisse (CS) stellt sich aber die Frage: Wie weit haben sich die Grossbanken mit ihren Geschäftsmodellen von diesen Grundaufgaben entfernt?
Der CS drohen Milliardenverluste. Einige ihrer aufwendig zusammengezimmerten Finanzkonstrukte haben sich – einmal mehr – als wenig nachhaltig erwiesen.
Zuerst wurden der CS sogenannte Supply-Chain-Finance-Fonds zum Verhängnis, zu Deutsch: Lieferkettenfonds. Sie entstanden in enger Zusammenarbeit mit dem australischen Banker Lex Greensill (44). Dessen Finanzunternehmen Greensill Capital kaufte Lieferanten auf der ganzen Welt offene Rechnungen ab, wandelte sie in Wertpapiere um und bündelte sie in Fonds.
Die CS pries diese Fonds als «risikoarme Investments» mit «attraktiven Renditen» an und ermunterte superreiche Kunden zum Kauf. Gemäss «Finanz und Wirtschaft» gewährte die Grossbank einigen Kunden gar Kredite, um noch mehr Geld in die Lieferkettenfonds zu stecken.
Die Idee hinter dem Konstrukt: Mit den Fondsgeldern werden die Lieferanten sofort bezahlt – und nicht erst nach einer Frist von 60 oder gar 90 Tagen, wie das in vielen Teilen der Welt üblich ist. Als Gegenleistung für die direkte Bezahlung gewähren die Lieferanten einen Preisnachlass von einigen Prozent. Mit diesem Skonto kommen Greensill, der Fonds und dessen Anteilhaber zu ihrer Rendite – sofern die offene Rechnung nach Ablauf der Zahlungsfrist beglichen wird.
«Das weltweite Marktpotenzial für Lieferkettenfinanzierungen bleibt bisher beinahe ungenutzt und könnte um jährlich 15 Prozent wachsen», schwärmte die CS 2017 in ihrem Kundenmagazin. Und weiter: «Lex Greensill hat einen Milliardenmarkt eröffnet.»
Doch die Risiken wurden komplett falsch eingeschätzt. Zu viele offene Rechnungen blieben nach Ablauf der Zahlungsfrist unbezahlt. Zudem kaufte Greensill auch offene Rechnungen von Lieferanten, die noch gar nichts produziert, verkauft oder geliefert hatten. Der eingebaute Versicherungsschutz erwies sich als nutzlos. Das System kollabierte.
Archego hat sich massiv verspekuliert
Diese Woche folgte für die CS der nächste Super-GAU: Die Pleite des US-Hedgefonds Archegos.
In diesem Fall ist das Geschäftsmodell der CS nicht ganz so komplex, aber mindestens ebenso fragwürdig: Die CS – und andere Grossbanken – hatten der Finanzgesellschaft Kredite in Milliardenhöhe gewährt, damit diese milliardenschwere Wetten auf bestimmte Kursentwicklungen abschliessen konnte.
Da sich Archegos massiv verspekulierte, forderten die kreditgebenden Banken zusätzliche Sicherheiten. Doch weil der Hedgefonds diese nicht bringen konnte, begannen einige Banken, die von Archegos hinterlegten Aktien zu verkaufen, um sich gegen Kreditverluste abzusichern. Damit retteten sie ihre eigene Haut, verschärften jedoch das Problem für die übrigen Gläubiger – unter anderem für die CS. Der zweitgrössten Bank der Schweiz droht nun ein Abschreiber in Milliardenhöhe.
Für Marc Chesney (61), Finanzprofessor an der Universität Zürich und Autor des Buchs «Die permanente Krise», zeigen die aktuellen Fälle einmal mehr, dass sich Teile des Finanzsektors bestenfalls nebenbei um ihre volkswirtschaftlichen Grundaufgaben kümmern.
Ein weiterer Beweis dafür sei das Volumen an Derivaten, das weltweit gehandelt werde. «Derivate sind eigentlich ein sinnvolles Mittel für die Realwirtschaft, um Risiken abzudecken. So kann sich zum Beispiel ein Nahrungsmittelkonzern gegen steigende Weizenpreise absichern.»
Mittlerweile sei das Volumen an Derivaten jedoch um ein Vielfaches höher als die Wirtschaftsleistung insgesamt. «Das offenbart, dass sich der Finanzsektor von der Realwirtschaft entkoppelt hat – und dass es Grossbanken in erster Linie darum geht, möglichst viel Profit mit solchen Wetten zu machen.»
Die Erhöhung der Eigenmittel ist nicht hoch genug
Dafür gingen die Finanzinstitute erhebliche Risiken ein, die bei Banken wie der CS – nach wie vor «too big to fail» – letztlich vom Steuerzahler getragen werden. Chesney: «Seit der Finanzkrise hat sich diesbezüglich kaum etwas geändert. Die Banken haben ihre Eigenmittel im vergangenen Jahrzehnt zwar erhöht, angesichts der Risiken, die sie nach wie vor eingehen, ist diese Erhöhung aber nicht hoch genug.»
Weiter kritisiert der Finanzwissenschaftler, die Regulierung von sogenannt strukturierten Produkten sei zu lasch. «Da weiss am Ende oft niemand mehr, in was eigentlich investiert wird – und ob das Konstrukt nachhaltig und für unsere Gesellschaft von Nutzen ist. Wir sollten deshalb eine Zulassungsstelle schaffen, die genau das prüft – ähnlich wie es Swissmedic bei Arzneimitteln tut.»
Die Finanzbranche selbst sieht derweil trotz des CS-Debakels wenig Handlungsbedarf. «Die Rolle der Banken als Unterstützer der Realwirtschaft ist heute genauso zentral wie eh und je», sagt Michaela Reimann, Kommunikationschefin der Schweizerischen Bankiervereinigung. Als Beleg dafür nennt sie das KMU-Kreditprogramm während der Corona-Krise.
Durch Aktien hinterlegte Milliardenkredite für riskante Börsengeschäfte rechtfertigt Reimann so: «Lombardkredite erfüllen grundsätzlich einen volkswirtschaftlichen Zweck und helfen Arbeitsplätze zu bilden. Sehr viele Lombardkredite werden in unternehmerische Aktivitäten investiert.»
Lieferkettenfonds wiederum bezeichnet Reimann als «ein sehr komplexes Geschäftsmodell», das aber ebenfalls «geschäftsunterstützend» sei. Die Verwendung dieses Geschäftsmodells müsse aber selbstverständlich allen regulatorischen Vorgaben folgen.
Sinneswandel ist kaum zu erwarten
Und was sagt die Credit Suisse selbst zur Frage, ob ihre Geschäftsmodelle und Finanzprodukte noch einen volkswirtschaftlichen Nutzen haben? «Als Universalbank decken wir die unterschiedlichsten Kundenbedürfnisse ab, von der Kontoführung und dem Zahlungsverkehr über Firmenkredite bis hin zur Vermögensverwaltung und Lösungen für professionelle Investoren. Dazu gehören auch alternative Anlagelösungen, die professionelle Investoren zur Diversifizierung ihrer Portfolios nutzen.»
Mit anderen Worten: Ein Sinneswandel ist nicht zu erwarten.