Claudia Grucz (54) hat schon viel Schlimmes erlebt: Im Teenager-Alter brach sie beim Sport zusammen, seither sitzt sie im Rollstuhl. Ihr Freund hat sich zwei Monate vor der Hochzeit erhängt. Der Schwager hatte einen Töffunfall und erlitt ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Aber Grucz hat immer weitergemacht. Irgendwie funktioniert. Einen neuen Weg gesucht. Doch jetzt, im Gespräch mit Blick, gesteht die Bündnerin: «Ich bin am Ende meiner Kraft.»
Seit über einem Jahr sucht sie eine rollstuhlgerechte Wohnung in der Region Zürich. Dreieinhalb Zimmer, keine Stufen. Aber sie ist chancenlos. «Ich habe so viele E-Mails geschrieben, ich kann es gar nicht mehr zählen», sagt sie. «Oft habe ich nicht einmal eine Antwort erhalten. Und wenn doch, dann war es eine Standardabsage.»
Grucz wohnte die letzten zwei Jahrzehnte in einer günstigen Überbauung in St. Moritz GR. An der Via Surpunt, unweit der Jugendherberge, nahe am See. Aber jetzt wird die Liegenschaft saniert. Die Besitzer schmeissen alle Mieterinnen und Mieter raus. Rentner, Invalide, Alleinerziehende. «Wir sind die, die es am schwersten haben, eine neue Wohnung zu finden», sagt Grucz stellvertretend für die anderen Hausbewohner.
«Ich gebe auf»
Die Kündigung hat sie schon erhalten, die Baubewilligung ist erteilt. 2022 beginnen die Sanierungsarbeiten. Danach werden die Wohnungen teuer verkauft. Grucz lebt jetzt zwischen Kisten.
Die 54-Jährige orientiert sich neu. Zürich soll ihre Heimat werden. Am liebsten nahe beim Balgrist, denn sie sitzt nicht nur im Rollstuhl, sondern ist auch noch Schmerzpatientin. Grucz hat eine krankhaft verspannte Muskulatur. Sie leidet seit Jahren.
Sie will in Zürich neu beginnen. Ihre Nichte startet ein Psychologie-Studium, die beiden möchten eine WG bilden. Aber das generationenübergreifende Duo findet keine passende Wohnung. «Ich habe alles versucht», sagt Grucz. Sie habe Unterstützung bei der Paraplegiker Stiftung gesucht. Bei der Hilfsorganisation Procap. Bei Genossenschaften. Selbst bei der Gleichstellungsstelle in Zürich. Alles ohne Erfolg. «Ich gebe auf», sagt die Rollstuhlfahrerin.
Problem Rollstuhl
Bei den Behindertenverbänden ist das Problem bekannt. «Das Angebot für rollstuhlgängige und preiswerte Wohnungen in der Schweiz ist völlig ungenügend», sagt Sonja Wenger von Procap Schweiz. «Vor allem in den urbanen Regionen findet man oft nur nach langer und ermüdender Suche oder mit Hilfe von Behörden eine Wohnung, die innerhalb des Budgets liegt, das von der IV vorgegeben ist.»
Grucz sagt, die Sozialversicherung würde 1500 Franken für die Miete zahlen. Dazu kommt das Budget der Nichte. Es ist nicht viel, was die beiden zusammen aufbringen können, aber es würde eigentlich reichen für eine Wohnung in der Agglomeration. Trotzdem bekommt sie nur Absagen. «Ich habe das Gefühl, wenn ich gesund wäre und laufen könnte, hätte ich eine Wohnung», sagt Grucz.
Dach über dem Kopf
Immerhin hat sie eine Zwischenlösung gefunden. Ein einziger Vermieter hat ihr einen Mietvertrag für eine Zweizimmerwohnung angeboten. Im August zieht sie mit ihrer Nichte nach Adliswil ZH.
Grucz wird auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen, die Nichte im Zimmer. Die Wohnung ist nicht behindertengerecht. Mindestens vierzehn Stufen sind im Weg. Aber es sind vier Wände, die im Grossraum Zürich sind. Das ist jetzt erst mal wichtig.
Einen Treppenlift gibt es nicht, ein elektrischer Rollstuhl muss her. Das kostet ein Vermögen. Aber Grucz, die vom Schicksal gezeichnete Frau, die seit 41 Jahren gelähmt ist, ist froh, zumindest ein Dach über dem Kopf zu haben. «Andere aus unserem Haus haben es noch schwerer», sagt sie.