Die Kopfschmerzen wurden immer schlimmer. Selbst Tabletten nützten nichts mehr. Tageslicht war qualvoll, das Zwitschern der Vögel eine Tortur. Das Leben fiel Jessica Zesiger (27) zunehmend schwer. Schliesslich entdeckten die Ärzte vom Inselspital Bern einen langsam wachsenden Hirntumor. Gutartig. Eine Operation war trotzdem unumgänglich.
Mehrere Eingriffe waren nötig, gefolgt von zwei dreimonatigen Reha-Aufenthalten und einer monatelangen Chemotherapie. Die eigene Sprache war Zesiger fremd. Das Gehen bereitete ihr Mühe. Die junge Bernerin, die eben erst ein BWL-Studium an der Universität Freiburg begonnen hatte, war auf einen Rollstuhl angewiesen, kämpfte sich aber langsam zurück in ihr altes Leben.
Jahrelang arbeitete sie für eine Bank im Kundencenter. Sie war die nette Stimme am Telefon, die den Kunden gerne Auskunft gab, wenn Probleme auftraten. Sie betreute die Lernenden im Betrieb. Ein Jahr war sie im Berner Jura am Schalter. «Um mein Französisch zu festigen», sagt Zesiger. «Und um neue Erfahrungen zu sammeln.»
«Das war ein Rückschlag»
Seit der Hirntumor-Diagnose arbeitet sie nicht mehr. Der 13. September 2017 war der vorläufig letzte Arbeitstag in ihrem Leben. Zesiger will aber zurück. Sie stand auch schon kurz vor dem Comeback. In diesem Frühjahr war sie im Gespräch mit ihrer ehemaligen Arbeitgeberin. Dann kam Corona. Der Integrationsversuch wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. «Das war ein Rückschlag», so die junge Bernerin zu BLICK.
Sie teilt ihr Schicksal mit Hunderten in der Schweiz. Menschen mit einer Behinderung haben einen schweren Stand auf dem Arbeitsmarkt. In Corona-Zeiten ist es noch schwieriger. Die Firmen fürchten eine zweite Welle, allenfalls erneute Zwangsschliessungen – und sind deshalb vorsichtig bei Neuanstellungen. Die betriebswirtschaftliche Situation erlaubt es zum Teil auch nicht. Einigen Unternehmern steht das Wasser bis zum Hals. Trotz Corona-Krediten. Trotz Kurzarbeit.
Die Schweiz steckt mitten in der schwersten Wirtschafts- und Gesundheitskrise der vergangenen 50 Jahre. Masken gehören mittlerweile zum Alltag. Den Menschen wird empfohlen, Distanz zu halten. Wo möglich, arbeiten viele im Homeoffice. Das alles erschwert die Integration von Menschen mit einer Behinderung. Sie brauchen am Anfang der beruflichen Neuausrichtung eine helfende Hand – ohne Mindestabstand. Ein Kaltstart vom Homeoffice aus, betreut via Skype oder Zoom, ist keine Option.
Zahlen sind rückläufig
So war es auch bei Zesiger. Ihre ehemalige Arbeitgeberin hat Interesse an einer Wiederanstellung signalisiert. Im März hat die Bank aber weitgehende Schutzmassnahmen beschlossen und das Gros der Angestellten in die eigenen vier Wände geschickt. «Die Schnupperphase hat sich verzögert», sagt Zesiger.
Ein typisches Schicksal, wie Eva Meroni (51) weiss. Sie ist Geschäftsführerin der Stiftung Profil, ein Ableger der Behindertenorganisation Pro Infirmis. Die Stiftung fördert die Integration von Menschen mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung. Ihr Ziel ist es, möglichst viele aus der IV in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Im ersten Halbjahr 2020 gelang das in 99 Fällen. Im gleichen Zeitraum im Vorjahr waren es 40 Fälle mehr.
Corona ist der Grund für den Rückgang. Meroni berichtet von diversen pausierten Arbeitsversuchen, von abgesagten Schnupperphasen. Gewisse Personen haben den ersten Arbeitsmarkt sogar wieder verlassen und sich eine Stelle im zweiten Arbeitsmarkt gesucht. Eine geschützte Position in einer Werkstatt. Aus Sicherheitsgründen und aus Angst vor den ökonomischen Folgen der Pandemie.
Einige Lichtblicke
Die Rückmeldungen der Firmen sind fast immer die gleichen. «Wir leiden unter dem bundesrätlichen Verbot von Grossveranstaltungen», heisst es etwa. Oder: «Zurzeit sind wir in Kurzarbeit, daher besteht generell eine Einstellungsrestriktion.»
Schwierig ist die Situation auch für Personen mit einer Diagnose aus dem Autismus-Spektrum. «Keine Antworten zu erhalten und auch nicht zu wissen, wann jemand Antworten geben kann, scheint mit sehr grossem Energieverbrauch verbunden zu sein», sagt Meroni. «Das hat wiederum Auswirkungen auf die Leistung bei der Arbeit oder im Studium.»
Einige wenige Lichtblicke gibt es. Meroni berichtet von einer Sachbearbeiterin, die zunächst eine Absage erhalten hat und dann doch den Arbeitsversuch antreten konnte. Sie erzählt von einer Buchhändlerin, die den ersten Schritt in den ersten Arbeitsmarkt gemacht hat, und von einem Logistiker, der wieder eine Festanstellung bekommen hat.
Eigenes Geld verdienen
Diese Geschichten machen Mut. Sie dienen auch Zesiger als Inspiration. Ende September hat sie nun endlich das Gespräch über die Wiedereingliederung bei der Bank. Die Leitung im Team hat mittlerweile gewechselt, das Team selbst ist auf rund 60 Personen angewachsen. Mit einigen hat sie bis heute Kontakt. «Es wäre schön, wenn alles klappt», sagt sie.
Die Bernerin hat versucht, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Sie ist wegen Gleichgewichtsproblemen zwar immer noch auf eine Gehhilfe angewiesen. Ihre Sprache hat sie mittlerweile aber wiedergefunden. Sie spricht in perfektem Berndeutsch. Ruhig und optimistisch. Noch während der Corona-Zeit hat sie einen grossen Schritt in die zukünftige Unabhängigkeit gemacht. Sie hat das Elternhaus, wo sie nach der Diagnose wohnte, wieder verlassen und ist zu ihrer Zwillingsschwester gezogen.
Jetzt steht der nächste Schritt an: Wieder eigenes Geld verdienen. «Das ist ein Gewinn an Lebensqualität», sagt Zesiger.