BLICK-Serie Armut in der Schweiz: Teil 2
«Die Arbeitgeber wollen niemanden über 50»

BLICK-Leserin Nadine Wyss ist seit zweieinhalb Jahren ausgesteuert. Als 56-Jährige fühlt sie sich unerwünscht auf dem Arbeitsmarkt. Sie erzählt von ihrem Leben am Existenzminimum und wie es ist, wenn man in einem kleinen Dorf festsitzt.
Publiziert: 26.08.2020 um 09:39 Uhr
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Aktualisiert: 30.10.2020 um 14:11 Uhr
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BLICK-Leserin Nadine Wyss (56) sitzt oft auf ihrem Balkon in einem Berner Dorf. Sie kommt kaum weg, weil sie kein Auto und kein Geld für den ÖV hat.
Foto: Karin Wenger
Karin A. Wenger

Als Mädchen wollte Nadine Wyss* (56) Pilotin werden, um die Welt zu bereisen. Nun sitzt sie in einem Berner Dorf fest, ohne Auto, ohne Geld für den ÖV. Sie sitzt oft auf ihrem Balkon, waldige Hügel versperren ihr den Blick in die Ferne. Manchmal schaut sie sich am Computer die Webcams der Nordseeinsel Sylt an. Dort verbrachte sie vor langer Zeit ihre letzten Ferien.

Nadine Wyss verlor 2015 ihre Stelle, fand keinen Job mehr, seit zweieinhalb Jahren ist sie ausgesteuert. Ihr Mann arbeitet in der Lebensmittelindustrie. Er verdient gerade so viel, dass sie keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben. Doch sein Lohn wird gepfändet, sie haben Schulden bei den Steuern und der Krankenkasse. Die beiden leben am Existenzminimum.

«Die Arbeitgeber wollen niemanden über 50»

«Ich habe mein Leben lang gearbeitet. Es macht mich stinksauer, wenn die Politiker davon schwafeln, die Alten sollten sich weiterbilden, dann würden sie wieder einen Job erhalten», sagt Wyss. Die Arbeitgeber wollten niemanden über fünfzig.

1981 begann sie eine Lehre als Telegrafistin. Mit dem sogenannten Fernschreiben konnten Textnachrichten versendet werden – die Technologie war ein Vorläufer vom Fax. Sie langweilte sich bald, bloss dafür zu sorgen, dass die Nachrichten beim richtigen Empfänger ankamen. So lernte sie in Weiterbildungen das Morsen mit Hochseeschiffen sowie Funken für Flugzeuge. «Das machte Spass, es war komplizierter», sagt sie. Später war sie zuständig für Bild- und Tonverbindungen via Satellit für Radio und Fernsehen.

«Ich wusste: Jetzt erwischt es dich»

Mit 42 Jahren wurde sie zum ersten Mal entlassen, als sich ihre Firma restrukturierte. An jenem Morgen sah sie im Intranet eine Videobotschaft vom Unternehmenschef. Er habe zu den Teamleitern gesagt, sie sollten sich gut überlegen, wen sie entlassen würden. Denn ältere Mitarbeiter hätten mehr Mühe bei der Stellensuche. «Ich wusste in diesem Moment instinktiv: Jetzt erwischt es dich», erzählt Wyss.

Sie fand ziemlich schnell wieder eine Stelle in einem Sekretariat. «Dort liess man mich nichts machen, ich musste Ordner in einem Estrich rumschleppen.» Sie verlangte mehrmals ein Gespräch, doch der Vorgesetzte wimmelte sie immer ab. Sie kündigte.

Zwei Jahren lang nur Absagen

In den folgenden Jahren hatte Wyss verschiedene Arbeitsstellen. Sie musste nie lange suchen und fand immer wieder rasch etwas Neues. Allerdings war ihr Lohn deutlich tiefer als zuvor, da sie als angelernt galt. Zuletzt arbeitete sie vier Jahre in einem Sekretariat in der Baubranche. Zu Beginn lief es gut, doch dann hatte sie immer weniger zu tun. Gegen Schluss sass sie an manchen Tagen hauptsächlich rum im Büro.

2015 kam die Kündigung. «Ich vermutete, dass es schwierig wird», sagt sie. Sie bewarb sich auf alles Mögliche, wo sie dachte: Das kann man lernen. Wyss erhielt nur Absagen, manchmal gar keine Antwort. 2017 ging sie nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit zum letzten Mal aufs RAV. «Das war ein harter Moment.»

Diese Lederschuhe fand sie für drei Franken auf dem Flohmarkt. Sie sind etwas zu gross, deshalb kriegt sie Blasen, wenn sie die Schuhe zu lange trägt.
Foto: Karin Wenger

«Ich fühle mich wie lebendig begraben»

In der Schweiz sind über 23'000 Menschen langzeitarbeitslos laut dem Staatssekratariat für Wirtschaft. Als Langzeitarbeitslose gelten Personen, die mehr als ein Jahr beim RAV registriert sind. Ausgesteuerte wie Wyss treten in dieser Statistik aber nicht auf. Laut dem Bundesamt für Statistik wurden zwischen 2014 und 2018 pro Jahr im Durchschnitt 37'700 Personen in der Schweiz ausgesteuert. Darunter fallen Menschen, die den Anspruch auf Arbeitslosengeld aufgebraucht haben.

Etwas mehr als die Hälfte der Ausgesteuerten findet nach einem Jahr wieder eine Arbeit. Wyss gehörte nicht zu ihnen. «Ich habe das Gefühl, ich existiere für den Staat nicht mehr – ausser für das Betreibungsamt. Ich bin wie lebendig begraben», sagt sie.

«Wofür habe ich mein Leben lang gearbeitet?»

Arztbesuche können sie und ihr Mann sich nicht leisten, weil ihr Selbstbehalt bei der Krankenkasse 2500 Franken beträgt, damit die Prämien tief bleiben. Im Winter stürzte sie vor dem Haus, seither schmerzt ihr Handgelenk, wenn sie es belastet. Die Haare schneidet sie sich seit Jahren selbst. Sie trägt sie immer zusammengebunden, damit man nicht sehe, dass sie krumm geschnitten sind. Und als ihr Brillengestell kaputtging, flickte sie es mit Klebestreifen. «Für was habe ich mein Leben lang gearbeitet?», fragt sie, «das kann doch nicht sein in einem Land wie der Schweiz!»

Als ihr Balkontisch kaputt ging, flickte sie ihn mit Klebestreifen. Den Strandkorb hat sie noch von früher, sie sitzt oft stundenlang darin.
Foto: Karin Wenger

Ihr Mann wird bald 50 und Wyss hat keinen Franken, um ihm etwas zu schenken. «Das tut so weh», sagt sie und beginnt zu weinen. Dann flüstert sie: «Es ist ja nur Geld. Jä nu, es ist halt so.» Sie wischt sich die Tränen weg. «Es ist ja nicht so, dass ich faul bin. Ich möchte ja. Aber ich bin nicht mehr erwünscht auf dem Arbeitsmarkt.» Sie wisse, dass sie sich nicht über die Arbeit definieren sollte. Doch andere würden das eben auch tun. Seit sie arbeitslos ist, hat Wyss fast alle Freundinnen und Freunde verloren. Irgendwann hätten sie aufgehört, sie anzurufen und zu fragen, wie es ihr gehe.

Unbeschränkt Zeit, aber kein Geld

Sie bewirbt sich immer noch auf Stellen, doch seit der Corona-Pandemie sei viel weniger ausgeschrieben. An manchen Tagen erwacht sie und denkt: «Ich mag nicht mehr.» Es falle ihr dann schwer, sich zu motivieren, überhaupt etwas zu tun. Sie könnte eh alles auf morgen verschieben. In solchen Momenten sei sie extrem froh, ihre zwei Katzen zu haben. «Sie tun mir sehr gut», sagt sie.

Wyss hat fast unbeschränkt Zeit, doch kein Geld, um etwas zu unternehmen. Sie sitzt auf ihrem Balkon, jätet Unkraut im Schrebergarten einige Strassen weiter oder liest Bücher. Reiseführer von fernen Ländern mag sie besonders.

Meer zu sehen ist «nicht realistisch»

Ihr grösster Wunsche wäre es, noch einmal das Meer zu sehen. «Vielleicht sollte ich mich damit abfinden, dass das nicht realistisch ist», sagt Wyss. Sie wirkt im Gespräch nie verbittert und sie betont, sich nicht zu sehr beklagen zu wollen. Schon SBB-Tageskarten würden sie glücklich machen, damit sie und ihr Mann wieder einmal einen Ausflug machen könnten. «Das Leben ist unfair, einige sind auf der Sonnenseite, andere nicht. Das muss man akzeptieren.»

* Name der Redaktion bekannt

BLICK-Serie: Wie ist es, in der Schweiz arm zu sein?

Wie ist es, in der Schweiz arm zu sein? Das kann nicht pauschal beantwortet werden. Armut hat viele Gesichter.

Als in Genf im Mai 2500 Menschen stundenlang anstanden für gratis Essen, sorgten die Bilder der langen Schlange für Aufstehen. In der wohlhabenden Schweiz wird Armut oft übersehen.

Etwa 660'000 Personen oder knapp acht Prozent der Schweizer Bevölkerung gelten als arm. Die Armutsgrenze liegt bei 2293 Franken pro Monat für eine Einzelperson und 3968 Franken pro Monat für ein Elternpaar mit zwei Kindern. Damit müssen Wohnung, Krankenkasse, Essen, Kleider, Pflege, Verkehr, Bildung und Hobbys bezahlt werden.

Viele Betroffene versuchen, die Armut vor der Aussenwelt zu verstecken. Und die meisten Menschen mit genügend Geld wissen nicht, was es heisst, in der Schweiz arm zu sein. BLICK will das ändern. In der dreiteiligen Serie geben betroffene BLICK-Leserinnen und Leser Einblick in ihren Alltag.

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