Auf einen Blick
Ein Flugblatt? Ein Modellflugzeug? Oder ein E-Velo? Für die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung dürfte der Fall klar sein. «Dass der Flyer heute in der Schweiz noch Synonym für ein E-Velo ist, macht mich mächtig stolz», sagt Andreas Kessler (59) beim Treffen mit Blick. Der gebürtige Zürcher führt seit achteinhalb Jahren die Geschäfte des E-Bike-Pioniers am Firmensitz in Huttwil BE. Obwohl das Unternehmen seit 2017 der deutschen Zweirad-Einkaufsgenossenschaft (ZEG) gehört, ist Swissness für ihn «matchentscheidend». Kessler: «Ich sehe unsere Bekanntheit aber auch als eine Verpflichtung gegenüber dem Schweizer Standort.»
Der Sprung vom Nischen- zum Massenprodukt gelang dem Unternehmen im Jahr 2003 nach einer Beinahe-Pleite. Mit der Flyer-C-Serie gingen die Verkaufszahlen rasant aufwärts. «Obwohl die E-Bikes als Grossmuttervelo belächelt wurden», wie Kessler zugibt. Früher sei das elektrische Velo eben für ein Ü60-Publikum extra mit Tiefeneinstieg konzipiert worden. «Heute ‹flyern› sämtliche Altersgruppen», so Kessler.
Massenentlassung in Huttwil ist überstanden
Die Velos sind leichter geworden, die Farben frecher, das Publikum urbaner, und die Batterien halten länger. «Natürlich ist der Markt auch umkämpfter.» In Europa gibt es inzwischen über 2000 Velomarken. In Deutschland und der Schweiz sei heute jedes zweite verkaufte Velo eines mit Elektro-Antrieb. Kessler: «Im Prinzip hat jede Marke auch ein E-Bike im Sortiment.»
Ein Boom, der auch Krise kennt: Im September 2023 musste der Flyer-Chef eine Vollbremsung hinlegen. Massenentlassung von 80 Beschäftigten, hauptsächlich in der Produktion in Huttwil. «Während Corona haben alle nach E-Bikes geschrien, die Kunden-Bestellungen gingen durch die Decke, aber die Lieferungen der Velo-Komponenten aus Asien kamen viel zu spät», erinnert sich Kessler.
Eine Reduktion der Überkapazität in der Produktion war unumgänglich. «Das war ein harter Einschnitt, schmerzhaft für die Mitarbeitenden und mich selber auch, aber für die Betriebsgesundheit notwendig», sagt Kessler. Auch im laufenden Jahr gab es 11 betriebsbedingte Kündigungen. Heute zählt Flyer noch 200 Mitarbeitende. «Wir sind am tiefsten Punkt im Tal der Tränen angelangt. Die Frage ist jetzt, wie breit das Tal ist», sagt Kessler.
Manch einer sorgt sich dennoch, die deutsche Besitzerin könnte die Produktion oder Teile davon nach Deutschland oder in Billiglohn-Länder verlagern. «Die Sorge ist unbegründet, die Krise ist durchgestanden. Und wir sind immer noch da, am Standort Schweiz wird festgehalten», sagt Kessler, der auf Millionen-Investitionen in die Fliessproduktion in den letzten Jahren verweist.
Mit reduzierter Kapazität gegen Überbestände
Die Führung durch das Huttwiler Werk, die grösste Velo-Produktion in der Schweiz, zeigt: Es geht langsam wieder aufwärts, wenn auch mit reduzierter Kapazität in der Fliessfertigung. Um die 40'000 E-Bikes verlassen die Schweizer Produktion nun jährlich. In den guten Vor-Corona-Jahren waren es 70'000 bis 80'000.
Zum Vergleich: Knapp 400'000 Velos und E-Bikes wurden im letzten Jahr in der Schweiz verkauft. Das sind 20 bis 25 Prozent weniger als in guten Jahren vor der Corona-Pandemie. Seit deren Ende habe es bei den Fachhändlern einen «Überbestand an E-Bikes ohne Ende», die Lager seien immer noch voll, erklärt Kessler. Für Konsumenten sei die Zeit gut, günstiger zu einem Premium-Flyer zu kommen.
Ein Flyer-Bike kostet im Schnitt 5000 Franken. Das entspricht in etwa dem Lohn, den die Produktionsangestellten in Huttwil monatlich erhalten. Letztere beginnen ihre Schicht um 6 Uhr morgens, jeder hat seinen zugeteilten Arbeitsbereich entlang der Fertigungsstrasse.
Während das Engineering, der Einkauf und alle weiteren Schritte inklusive Montage in Huttwil stattfinden, stammen fast alle Komponenten eines Flyers aus Fernost, Motoren und Batterien zum Teil aus Osteuropa. «Ohne Asien steht unsere Branche still», attestiert Kessler. Auf Rahmen, die in Vietnam oder Taiwan hergestellt werden, müsse das Unternehmen gegenwärtig neun Monate warten. Damit alles «Just-in-time» zusammengefügt werden könne, brauche es eine vorausschauende Planung. Mehrmonatige Lieferzeiten seien normal, Lieferketten-Probleme wie während Corona-Pandemie gebe es aber keine mehr.
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Bevor ein E-Bike das Werk in Huttwil zum Händler verlässt, gehts in die Endkontrolle. «Hier entfernen wir auch mal noch mit einem Lappen den letzten Fingerabdruck», so Kessler. Etwa vier Stunden dauert es im Ganzen, bis ein einzelnes E-Velo fertiggestellt ist.
Bleibt Bike World grösster Partner in der Schweiz?
Im Gegensatz zu Konkurrenten verkauft Kessler seine E-Bikes nur über Fachhändler: 1200 in Europa, 240 in der Schweiz. Jedes zweite verkaufte Velo sei heute eines mit Antrieb, bei den Mountainbikes sei die Zahl noch extremer. Im Gespräch fällt auch der Name des zweiten Schweizer Stromer-Pioniers, des Berners Thomas Binggeli (50). Dieser hat kürzlich Bike World der Migros abgekauft. Interessantes Detail: Der Velohändler ist einer der grössten Flyer-Verkäufer in der Schweiz, verrät Kessler. Hält Konkurrent Binggeli weiter zum Huttwiler E-Bike-Hersteller?
«Wir haben ein kollegiales Miteinander. Wir komplettieren sein Sortiment, denn er ist hauptsächlichen im sportlichen E-Velobereich mit den Mountainbikes unterwegs», sagt Kessler. Zudem übernehme er auch den Flyer-Kundenstamm von der Migros. «Und diese Kunden sind es sich gewohnt, bei Bike World ihren Flyer-Service zu bekommen.» Es hätte auch anders kommen können, weiss Kessler. «Wir sind sehr froh, dass die Bike-Kette in Schweizer Hand geblieben ist und nicht an einen Ausländer geraten ist.»
Apropos Ausland: Der wichtigste Markt für Flyer ist Deutschland mit einem Umsatzanteil von 50 Prozent. An zweiter Stelle folgt die Schweiz, dann kommen die Niederlande und Belgien. Wachstumspotenzial sieht Kessler vor allem bei den Nachbarn. «Die Deutschen stehen auf Swissness. Die Bereitschaft ist da, für Schweizer Qualität auch etwas mehr zu bezahlen.» Das spielt Kessler in die Hände. «Wir waren der E-Bike-Pionier. Jetzt wollen wir Flyer wieder richtig zum Fliegen bringen.»