Bauern im solothurnischen Gäu waren die Ersten, die merkten: Da ist etwas im Gang. Plötzlich seien Leute auf seiner Wiese gestanden, berichtete ein Landwirt Anfang Oktober an einem Infoabend in Egerkingen. Kurz davor hatte er einen Brief erhalten. Er sei überrumpelt gewesen. «Einfach Briefe zu schicken mit der Information, dass das Land für Bohrungen gebraucht wird, ist nicht die feine Art», zitierte ihn die «Solothurner Zeitung».
Es geht mit Tempo vorwärts bei Cargo sous terrain – ohne dass die breite Öffentlichkeit davon viel mitbekommt. Dabei ist die geplante Güter-U-Bahn ein Projekt in der Grössenordnung der Neat, mindestens.
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Ab den 2040er-Jahren soll sie die Schweiz vom Genfersee bis an den Bodensee unterirdisch mit Waren versorgen. Bereits in drei Jahren will die Betreiberfirma Cargo sous terrain mit den Bauarbeiten für die erste Teilstrecke beginnen, die vom Kanton Solothurn nach Zürich führt. 2031 sollen auf diesem Abschnitt die ersten Wägelchen auf die Reise gehen, mit allem drin, was auf Paletten transportiert werden kann; vom Zalando-Socken-Paket bis zur Mineralwasserlieferung für die Migros-Filiale.
Allein diese erste 70 Kilometer lange Strecke kostet 3,6 Milliarden Franken. Für das ganze Güter-U-Bahn-Netz rechnet die Betreiberfirma mit Kosten von über 30 Milliarden. Das ist mehr, als in den nächsten Jahrzehnten jeweils für den Ausbau der Autobahn oder der Bahn vorgesehen ist.
De Meuron und Piccard als Fans
Anders als Strassen und Schienen ist das unterirdische Güterverkehrsnetz aber kein Projekt von Bund und Kantonen, sondern der privaten Cargo sous terrain AG. Das Geld stellen private Investoren aus dem In- und Ausland zur Verfügung. Budgetdebatten im Parlament und Volksabstimmungen über Baukredite entfallen somit. Nur darum ist der ambitionierte Zeitplan überhaupt ins Auge zu fassen.
Der Bund setzt lediglich die Rahmenbedingungen – zum Beispiel, dass die Betreiberin der Güter-U-Bahn die Waren aller Kunden zu den gleichen Konditionen transportieren muss. Der Untergrund, wo die Tunnel gebaut werden, untersteht der Hoheit des jeweiligen Kantons.
Ein privates Infrastrukturprojekt dieser Grösse hat es seit den Eisenbahnpionieren im 19. Jahrhundert in der Schweiz nicht mehr gegeben. Politiker von links bis rechts gehören zum Unterstützungskomitee, Wirtschaftsleute, aber auch der Architekt Pierre de Meuron und der Abenteurer Bertrand Piccard. «Hier haben sich Leute zusammengetan, um kluge Ideen zu entwickeln und auch Risiken einzugehen», lobte die ehemalige Verkehrsministerin Simonetta Sommaruga vor zwei Jahren im Parlament.
Kritische Stimmen sind selten. Eine von ihnen ist Urs Huber, SP-Kantonsrat in Solothurn. «Weil es die öffentliche Hand nichts kostet, findet keine wirkliche Debatte statt», sagt er. «Dabei wird sich das Projekt auf den Verkehr und den Städtebau im ganzen Land auswirken.» Der 62-jährige Verkehrspolitiker arbeitete als Dienstchef im ehemaligen Postverteilzentrum Däniken AG und leitet heute den Bereich SBB Infrastruktur bei der Eisenbahnergewerkschaft SEV.
Es brauche neue Lösungen, damit der steigende Bedarf an Warenlieferungen abgewickelt werden könne, sagt er. Dabei müssten aber alle Interessen berücksichtigt und gegeneinander abgewogen werden: wirtschaftliche, verkehrstechnische, siedlungsplanerische, soziale und ökologische. «Die Planung unseres Strassen- und Schienennetzes überlassen wir ja auch nicht einer einzelnen privaten Firma. Warum soll das jetzt sinnvoll sein, wenn unter dem Boden eine dritte Transportinfrastruktur geschaffen wird?»
Komplett neues Logistiksystem
Die Macher von Cargo sous terrain bestreiten keineswegs, dass ihr Projekt weit über eine neue Transportmöglichkeit für Waren hinausgeht. Mit der Güter-U-Bahn entstehe ein komplett neues Logistiksystem, das die Staugürtel um die Agglomerationen unterfahre, sagt Verwaltungsrat Daniel Wiener. Sein CEO Peter Sutterlüti liess sich schon mit den Worten zitieren: «Cargo sous terrain wird den Gütertransport in der Schweiz revolutionieren und eine Steigerung der Lebensqualität für künftige Generationen auf dem Land und in den Städten mit sich bringen.»
Als grössten Vorteil preisen sie die gebündelte Auslieferung, die Cargo sous terrain ermöglicht. Noch unter der Erde, im dreispurigen Tunnel und in den sogenannten Hubs, den Ein- und Ausladestationen, werden die Waren so sortiert, dass es für die Feinverteilung an der Oberfläche so wenig Fahrten wie möglich braucht. Cargo sous terrain berechnet die effizientesten Lieferrouten und wählt auch für die letzte Meile das passende Fahrzeug aus, mal Kleinlastwagen, mal Cargo-Bike. Das heisst: Alles, was über die Güter-U-Bahn geht, wird bis vor die Tür der Empfängerin geliefert.
«Heute liefern viele Ladenketten ihre Waren selber aus, und oft fahren 20-Tonnen-Lastwagen mit einer winzigen Ladung durch die halbe Stadt, um eine bestimmte Filiale zu beliefern», sagt Wiener. Cargo sous terrain könne den Lastwagenverkehr in der Schweiz um bis zu 20 Prozent verringern, in den Städten um bis zu 30 Prozent, hätten Studien gezeigt. Der CO2-Ausstoss des Güterverkehrs würde markant sinken.
Wie die Hubs aussehen sollen, ist unbekannt
Cargo sous terrain sieht sich aber auch als Stadtentwickler, der mit seinen Hubs die Logistik zurück in die Zentren bringt. Auf einer viermal kleineren Fläche als herkömmliche Anlagen zum Warenumschlag, ohne Lärm, ohne Dreck. «Die unterirdischen City-Hubs können sich zu multifunktionalen Markthallen des 21. Jahrhunderts entwickeln, mit Kleingewerbe, Schulen, Läden und Wohnungen», sagt Wiener.
Noch aber ist alles Vision, im besten Fall Plan. Am wenigsten klar ist, wie die Hubs einmal aussehen sollen; das Herz, Hirn und Gesicht des Projekts. Nächstes Jahr sollen die Hub-Standorte und die Linienführung der Güter-U-Bahn aber bereits in die kantonalen Richtpläne eingetragen werden. Betroffene können Einsprache erheben, sowohl Gemeinden als auch Private.
Was, wenn das Projekt Cargo sous terrain scheitert?
Niemand müsse Angst haben vor den Folgen, die das Pionierprojekt mit sich bringe, sagt Daniel Wiener. Mehrere Ingenieur- und Architekturbüros arbeiteten derzeit in Absprache mit den Gemeinden an Visualisierungen für die Hubs. «Die Planungsbehörden schauen ganz genau hin, dass unser Projekt mit übergeordneten Zielen bei Verkehr, Raumplanung und Umwelt übereinstimmt.»
Fragen aber bleiben. Ist die potenzielle Kundschaft von Cargo sous terrain bereit, die Auslieferung ihrer Waren – diese enge Bindung zu ihren Kunden – an eine andere Firma abzugeben und die Logistik gemeinsam mit der Konkurrenz abzuwickeln? Braucht es wirklich eine komplett neue Infrastruktur, um den Gütertransport in der Schweiz effizienter und nachhaltiger zu machen? Und was passiert, wenn Cargo sous terrain scheitert?
«Wer sich in der Branche auskennt, kommt zum Schluss, dass die Versprechen von Cargo sous terrain zu schön sind, um Realität werden zu können», sagt SP-Kantonsrat Urs Huber. Das Urteil des SBB-Gewerkschafters teilen andere Kritiker wie die Transportunternehmer Nils Planzer und SVP-Nationalrat Benjamin Giezendanner.
Jede Firma organisiere ihre Warentransporte so, dass es für sie stimme, sagt Huber. Darum komme auch der Güterverlad auf die Eisenbahn kaum vom Fleck, obwohl er politisch gewünscht sei und staatlich unterstützt werde. «Damit Cargo sous terrain wirklich genutzt wird, müsste das im Stil einer chinesischen Planwirtschaft von oben verordnet werden.»
So aber werde das Güter-U-Bahn-Projekt entweder allein auf die kommerziellen Interessen der Betreiberfirma ausgerichtet, «wodurch ein Grossteil des Nutzens wegfällt, den sich die Schweiz von der neuen Infrastruktur erhofft». Oder am Schluss müsse doch der Staat einspringen, damit all die Investitionen und Bauten nicht umsonst gewesen sind, so Huber. «So war es letztlich auch bei den Eisenbahnpionieren des 19. Jahrhunderts.»
«Leidensdruck nicht gross genug»
Auffallend ist, dass die Unterstützung aus der Politik breit ist, dagegen aber viele Fachleute aus der Logistik-, Verkehrs- und Nachhaltigkeitsforschung eher unentschieden sind. «Ob ich mir wünsche, dass die Güter-U-Bahn kommt? Ich weiss es nicht», sagt Maike Scherrer, die an der ZHAW in Winterthur zu nachhaltigen Lieferketten forscht.
«Entscheidend ist, ob Cargo sous terrain gute Hub-Standorte in den Stadtzentren erhält.» Im Ausland zeige sich, dass Konkurrenten durchaus ihre Waren gemeinsam ausliefern lassen. Etwa in Monaco, in verwinkelten italienischen Stadtzentren oder in holländischen Städten, die ganz aufs Velo ausgerichtet sind. Sobald die Strassen eng sind, der Platz für Lastwagen knapp, geben die Firmen die Auslieferung gern ab. «In der Schweiz ist der Leidensdruck dafür noch nicht gross genug», sagt Professorin Scherrer.
Prognose: 30 Prozent mehr Güterverkehr
Allerdings nimmt der Onlinehandel Jahr für Jahr zu, und die Bevölkerung wächst. Nach den Prognosen des Bundes wird der Güterverkehr bis 2050 um mehr als 30 Prozent zunehmen. Und die Städte wollen gleichzeitig velo- und fussgängerfreundlicher werden. «Die Behörden müssen jetzt Weichen für die Güterversorgung der Zukunft stellen. Sie haben die Hebel dafür», sagt Maike Scherrer.
Etwa zentrale Flächen für die Logistik freizuhalten, an denen ein Warenumschlag von einer künftigen Güter-U-Bahn, aber auch von der Eisenbahn aus erfolgen kann. Oder Regeln erstellen, die eine Bündelung der Warentransporte fördern, wie Fahrverbote für grosse Lastwagen in den Innenstädten. Möglich wäre auch, die Feinverteilung der Waren in Konzession auszuschreiben, das heisst, eine bestimmte Firma übernimmt sie für eine bestimmte Zeit für die ganze Stadt oder einen Stadtteil.
Die Güterlogistik sei zentral für das Leben in den Zentren der Zukunft, sagt Scherrer. Von der Stadtplanung sei sie lange vernachlässigt worden, immer sei es um Wohnen, Kultur, Läden gegangen, neue Bus- und Tramlinien oder das Auto. «Wenn sich das nun ändert und die Debatte über Logistik den Weg in die Politik und die Gesellschaft findet, hat Cargo sous terrain schon viel bewirkt.»