Welche Unternehmenskultur zieht Fachkräfte an? Wie präsentiert sich eine Firma erfolgreich auf Linkedin? Was fördert die (mentale) Gesundheit des Personals? Was für Möglichkeiten gibt es für eine zeitliche Flexibilisierung der Arbeit?
Mit solchen Fragen haben sich in den vergangenen eineinhalb Jahren wichtige Akteure der Schweizer Wirtschaft beschäftigt. Neben Migros, der grössten Arbeitgeberin des Landes, waren namhafte Industriebetriebe wie ABB, Bühler, Geberit, Georg Fischer und Stadler Rail an dem Projekt beteiligt. Involviert waren auch der Schweizerische Arbeitgeberverband, der über 100'000 Klein-, Mittel- und Grossunternehmen vertritt, Swissstaffing, der Verband der Personaldienstleister, sowie Swissmem, der Verband der Schweizer Tech-Industrie.
Produktionsbetriebe haben ein Attraktivitätsproblem
Die starke Vertretung von Produktionsbetrieben ist kein Zufall. Denn Arbeitgeber, die vorwiegend stationäre Jobs anbieten, haben ein Attraktivitätsproblem: Weil viele ihrer Angestellten in die Fabrik kommen müssen und Homeoffice oft unmöglich ist, haben sie es tendenziell schwieriger, gute Leute zu finden. «Vor diesem Hintergrund haben wir uns im Nachgang der Corona-Pandemie die Frage gestellt, wie das Arbeitsumfeld auch für Mitarbeitende in der Produktion noch attraktiver gestaltet werden könnte», sagt Kareen Vaisbrot (45), Bereichsleiterin Arbeitgeberpolitik bei Swissmem.
Ausgehend von dieser Frage sind zehn sogenannte «Best Practices» zur Arbeitswelt von heute entstanden. Der umfangreiche Leitfaden soll Firmen als «Anregung und Ideengeber» dienen, um moderne Arbeitgeber zu sein.
Als mögliche Massnahme, um die Attraktivität von Büezer-Jobs zu steigern, wird etwa die Einrichtung von Ruheräumen in unmittelbarer Nähe der Produktion genannt – am besten mit Sitzmöglichkeiten und Ohropax-Spender. Angeregt werden auch Verpflegungsmöglichkeiten mit vollwertigen Mahlzeiten – oder am besten gleich ein Personalrestaurant, in dem Mitarbeitende aus der Produktion Vorrang geniessen.
Leitfaden beinhaltet viel positives für Arbeitnehmende
Um das Gesundheitsmanagement zu verbessern, wird den Unternehmen ein betrieblicher Sozialberatungsdienst ans Herz gelegt. «Der Sozialberatungsdienst unterstützt Mitarbeitende in schwierigen Situationen und hilft Lösungen bei beruflichen und psychosozialen Herausforderungen zu finden», so die Idee.
Auch die Vorschläge betreffend Lifelong Learning (zu Deutsch: lebenslanges Lernen) hören sich für die Arbeitnehmenden positiv an: «Es wird den Unternehmen empfohlen, in die berufliche Entwicklung ihrer Mitarbeitenden zu investieren. Dafür sollten entsprechende Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.»
Arbeitszeit soll flexibler gestaltbar sein
Zentrales Element des Leitfadens ist zudem eine zeitliche Flexibilisierung der Arbeit. Für Produktionsmitarbeitende wird etwa ein «spezielles Extra-Schicht-System» aufs Tapet gebracht, das die Möglichkeit schaffen soll, über Mittag – zwecks Kinderbetreuung – nach Hause gehen zu können. Des Weiteren wird ein Pool von «Joker-Mitarbeitenden» oder «Springern» als Möglichkeit genannt, um dem Stammpersonal mehr Flexibilität zu ermöglichen.
Die Flexibilisierung der Arbeitswoche hat gar ein eigenes Kapitel erhalten. Dort heisst es wörtlich: «Ging es bislang häufig um die Frage der Präsenz vor Ort oder Remote Working, so könnte ein weiterer Schritt sein, die Arbeitswoche an sich flexibel zu gestalten und vom traditionellen Bild der 5-Tage-Woche abzuweichen.» Eine Arbeitswoche lasse sich auch auf vier beziehungsweise sechs Tage verteilen.
Dabei gilt es festzuhalten: Die Gesamtarbeitszeit pro Woche wird nicht infrage gestellt. Doch anstatt die vorgegebenen 40 Stunden an fünf 8-Stunden-Tagen zu erreichen, könne das auch an vier 10-Stunden-Tagen geschehen. «Das Obligationen- und Arbeitsrecht bietet eine gewisse Flexibilität in der Frage, wann gearbeitet wird», so der Ratgeber.
Oder doch lieber eine 6-Tage-Woche?
Eine 6-Tage-Woche mit einer täglichen Arbeitszeit von 6 Stunden und 40 Minuten sehen die Autoren ebenfalls als gangbaren Weg. Sie merken aber an: «Bei der Aufteilung der Arbeitszeit auf mehr als fünf Tage muss ein freier Halbtag gewährt werden.»
Ziele einer solchen Flexibilisierung sind gemäss Leitfaden eine «moderne Arbeitskultur», «attraktive Arbeitszeitmodelle» zur Fachkräftegewinnung sowie die Möglichkeit für ältere Mitarbeitende, weiterhin erwerbstätig zu bleiben.
Doch es ist klar: Nicht alle werden die genannten Massnahmen so positiv bewerten. Insbesondere die Anregung einer 6-Tage-Woche dürfte auf gewerkschaftlicher Seite lautstarken Protest auslösen.
Vorschläge für den Leitfaden wurden von Angestellten eingebracht
Das Besondere an den Vorschlägen ist jedoch, dass sie auch von Angestellten eingebracht wurden. Die genannten Verbände und Unternehmen haben die zehn «Best Practices» nicht top-down festgelegt, sondern in Zusammenarbeit mit Arbeitnehmervertretungen und Personalkommissionen entwickelt.
Stark involviert war zudem der Verband Angestellte Schweiz. Dessen Geschäftsführer Stefan Studer (60) ist überzeugt: «Mehr zeitliche Flexibilität ist auch im Interesse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – sofern eine solche Vereinbarung in gegenseitigem Einvernehmen zustande kommt.»
Studer und Vaisbrot von Swissmem betonen die Einzigartigkeit des Projekts: «Arbeitnehmende und Arbeitgebende haben diese ‹Best Practices› in gemeinsamen, intensiven Workshops erarbeitet. So etwas gab es in der Schweiz noch nie.»
Arbeitsmarkt nachhaltig verändern
Auf die Frage, wieso Gewerkschaften wie die Unia nicht ebenfalls an Bord geholt wurden, meint Vaisbrot: «Es wurden auch nicht alle Arbeitgeber miteinbezogen. Wir hoffen aber, dass auf dieser Basis eine Bewegung bei Arbeitgebern und Arbeitnehmenden hin zu pragmatischen Lösungen auf Unternehmensebene entsteht.»
In den kommenden Wochen werden die Verbände den Leitfaden ihren Mitgliedern präsentieren. Zehntausende Firmen und Personalverantwortliche dürften die Vorschläge für die «Arbeit der Zukunft» erhalten. Ist die traditionelle 5-Tage-Woche damit bald Geschichte? Studer von Angestellte Schweiz winkt ab: «Die Anregungen und Tipps sind nicht verbindlich, sondern als Rezeptbuch zu verstehen: Jeder pickt sich raus, was für ihn passt.»
Angesichts der namhaften Autoren-Gemeinschaft hat das Werk aber durchaus das Potenzial, die Schweizer Arbeitswelt nachhaltig zu verändern. Den rasanten Siegeszug des Homeoffice hatte auch kaum jemand kommen sehen.