Tiziano Torzuoli (41) ist kein Polterer. Polemik und Populismus sind ihm fremd. Der Unternehmer schildert nüchtern, wie es seiner kleinen Modeboutique in den vergangenen Monaten ergangen ist: «Wir haben zum Glück Reserven und stehen nicht vor dem Aus. Aber wir werden dieses Jahr rund 30 Prozent weniger Umsatz machen als in den Vorjahren – und Verluste.»
Die Roma Boutique AG wurde 1974 in St. Gallen gegründet. Es ist ein klassisches Familienunternehmen mit drei Mitinhabern. Sie heissen alle Torzuoli: Sohn Tiziano, Mutter Rosmarie (72) und Vater Gian Carlo (75).
Die erste Unternehmer-Generation packt auch heute noch mit an. Torzuolis Frau ebenfalls. Sechs Festangestellte und vier Lehrlinge an vier Standorten kommen hinzu, zwei in der Stadt St. Gallen, zwei in der Stadt Zürich.
Nur wenig Spielraum
«Als der Lockdown kam, haben wir natürlich versucht, wo immer möglich Kosten zu sparen», sagt Tiziano Torzuoli. Da die Kaufverträge für die Sommer- und die Winter-Kollektion bereits unter Dach und Fach gewesen seien, habe er jedoch nur wenig Spielraum gehabt.
Torzuoli hoffte, zumindest bei der Miete etwas machen zu können. «Für unsere Verkaufslokale werden monatlich 52'000 Franken fällig. Ein grosser Kostenblock.»
Drei Liegenschaftsbesitzer kamen der Boutique entgegen. Am wichtigsten und teuersten Standort aber – in unmittelbarer Nähe der Zürcher Bahnhofstrasse – gab der Vermieter, ein grosser Lebensversicherungskonzern, keinen Franken nach. «Hier bezahlten wir im März und im April die volle Miete von 23'300 Franken – für nichts!»
2,5 Millionen Franken Miete
Torzuoli wirkt nicht wütend, eher enttäuscht: «In den vergangenen zehn Jahren haben wir für diesen Standort rund 2,5 Millionen Franken Miete bezahlt – anstandslos. Angesichts dessen finde ich es einfach traurig, dass man uns in einer Ausnahmesituation wie Corona komplett im Regen stehen lässt.»
Torzuoli ist kein Einzelfall. Das zeigen Gespräche von SonntagsBlick mit anderen Kleingewerblern und Gastronomen, aber auch der «Monitoringbericht zur Situation der Geschäftsmieten», den der Bundesrat im Oktober veröffentlichte und zu dem eine repräsentative Umfrage von GFS Bern gehört. Darin gaben 60 Prozent der Mieter an, eine Einigung mit dem Vermieter gefunden zu haben, 40 Prozent blieben erfolglos.
Der Bundesrat schloss daraus, es gebe derzeit «wenig Hinweise für umfassende und flächendeckende Schwierigkeiten bei den Geschäftsmieten». Eine gewagte, aber wenig überraschende Interpretation: Schon im Frühjahr machte die Landesregierung wiederholt klar, sie wolle nicht in die «privatrechtliche Beziehung» zwischen Mietern und Vermietern eingreifen.
Dieser Haltung zum Trotz beauftragte das Parlament – angeführt von Links-Grün – den Bundesrat in der Sommersession, eine gesetzliche Regelung der Geschäftsmieten vorzulegen. Die Absicht: Betreiber von Läden und Beizen sollten für die Zeit des landesweiten Lockdowns nur 40 Prozent des Mietzinses bezahlen. 60 Prozent hätten die Vermieter zu tragen.
Die Kehrtwende
Nach einer Vernehmlassung im Eilzugtempo kam das Geschäft diese Woche erneut ins Parlament – fand jedoch plötzlich keine Mehrheit mehr. Der Nationalrat lehnte es mit 100 zu 87 Stimmen ab. Im Juni hatte die Vorlage in der gleichen Kammer noch eine Mehrheit von 98 zu 84 Stimmen gefunden. Der Ständerat trat nicht einmal mehr darauf ein.
Was war geschehen? Wie konnte das Parlament in sechs Monaten seine Meinung komplett ändern? Vor allem: Wer hatte da eine Kehrtwende vollzogen?
Der Ständerat ist eine Dunkelkammer. Wer wie abgestimmt hat, wird nicht protokolliert. Für den Nationalrat aber gibt es eine elektronische Abstimmungsdatenbank. Die zeigt, dass folgende acht Politiker vom Ja- ins Nein-Lager umgeschwenkt sind: Martin Candinas (40), Nicolo Paganini (54), Philipp Kutter (45), Marco Romano (38), Markus Ritter (53) und Philipp Matthias Bregy (42) – alle CVP –, zudem David Zuberbühler (41, SVP) und Michel Matter (55, GLP).
SonntagsBlick wollte von den Verantwortlichen wissen, wie ihr Meinungsumschwung zustande kam. Spielte das Lobbying des mächtigen Verbands Immobilien Schweiz (VIS) mit CVP-Ständerat Daniel Fässler (60, AI) an der Spitze eine Rolle?
Letzteres verneinen die Befragten. Sie weisen hauptsächlich darauf hin, dass sich die Lage seit dem Sommer verändert habe. Einerseits sei mittlerweile klar, dass sich die Krise nicht auf die zwei Lockdown-Monate beschränke. Zudem sei für besonders stark betroffene Betriebe eine Härtefallregelung in Form von À-fonds-perdu-Beiträgen unterwegs.
Der letzte Ausweg
Unternehmer Torzuoli rechnet nicht damit, dass er davon profitieren wird. Auch vom Geschäftsmietengesetz hätte er wohl nichts gehabt, da dieses eine Miet-Obergrenze von 15'000 Franken vorgesehen hätte. Er sieht für seine Modeboutique deshalb nur einen Weg: «Wir werden wohl nicht darum herumkommen, den juristischen Weg einzuschlagen.»
Dass eine Klagewelle droht, zeigt auch das Beispiel des Gastroriesen Rudi Bindella (72). Der betreibt rund 40 Restaurants, an 27 Standorten ist er eingemietet, bezahlt pro Monat rund eine Million Franken Miete. Bindella sagt klipp und klar: «Wenn wir keine Lösung finden, rufen wir das Mietgericht an.»
Die Juristen freuts
Anita Thanei (65), Anwältin mit Spezialgebiet Mietrecht und ehemalige Zürcher SP-Nationalrätin hat bereits 20 Mandate, in denen es um die Forderung einer Mietzinsreduktion in Zusammenhang mit Corona geht. Sie ist überzeugt, dass die Betroffenen für eine Mietzinsreduktion sehr gute Karten haben. «Mietrechtlich liegt ein Mangel vor, da die vertragsgemässe Nutzung des Mietobjekts während des Lockdowns ausgeschlossen war.»
Ein erstes Urteil aus dem Kanton Luzern bestätigt diese Einschätzung. Dort ist ein privates Schiedsgericht zum Schluss gekommen, dass einem Restaurant eine Mietzinsreduktion um 60 Prozent zusteht.
Vom Nein zum Geschäftsmietengesetz könnte also demnächst neben Liegenschaftsbesitzern auch eine andere Berufsgattung profitieren: die Juristen.