Die Tourismusindustrie hat das Corona-Tief überwunden – und mehr als das. 2023 verbuchte die Schweizer Hotellerie einen neuen Rekord: 41,8 Millionen Logiernächte. Diese Woche meldete das Bundesamt für Statistik dann auch für die zurückliegende Wintersaison einen «historischen Höchstwert».
Doch der Boom erfreut nicht jeden. Vor allem im Berner Oberland werden vermehrt Stimmen laut, die sich über «Overtourism» beklagen. In der Gemeinde Lauterbrunnen wurde gar darüber diskutiert, eine Gebühr von 5 bis 10 Franken für Besucher zu erheben, die im Auto anreisen.
Lauterbrunnen BE, eine Gemeinde mit 2270 Einwohnern, registrierte vergangenes Jahr 498’608 Hotel-Logiernächte. Auf jeden Einheimischen kamen demnach 220 Übernachtungen. In Grindelwald BE, einem beliebten Startpunkt zum Jungfraujoch, waren es praktisch gleich viele.
Damit liegen die beiden Gemeinden des Berner Oberlands weit vorne. Eine Auswertung von Blick zeigt aber auch: Es gibt Orte, die im Verhältnis zu ihrer Grösse fast gleich viele oder gar noch mehr Gäste empfangen – und kaum über negative Begleiterscheinungen klagen.
Spitzenreiter Zermatt, Überraschung auf Rang zwei
Zermatt VS (284), Morschach SZ (221) und Samnaun GR (196) sind punkto Hotel-Übernachtungen pro Einwohner vergleichbar mit Lauterbrunnen und Grindelwald. Die negativen Auswirkungen des Massentourismus aber werden dort deutlich seltener thematisiert – zumindest leiser.
Karl Näpflin (60), Gemeindepräsident von Lauterbrunnen, erklärt das mit den «überdurchschnittlich vielen Tagestouristen», die mitunter nur für ein kurzes Foto vom Staubbachfall haltmachten. «Es sind vor allem diese Handy-Touristen, die uns seit einigen Jahren zu schaffen machen. Andere Orte haben diese Problematik weniger.»
Da Lauterbrunnen ein Durchfahrtsort ist, sei es für die Gemeinde zudem sehr schwierig, die Verkehrsströme zu regeln. «Da haben Sackgass-Orte wie Zermatt, Morschach, Samnaun und auch Grindelwald einen Vorteil gegenüber uns», sagt Näpflin. Zudem weist der Gemeindepräsident darauf hin, dass für Lauterbrunnen die Zahl der Hotel-Logiernächte nur bedingt aussagekräftig sei, da sehr viele Gäste in Ferienwohnungen und auf den vier Campingplätzen übernachten.
Keine eindeutige Definition von Overtourism
Auch Christian Laesser (61) ist davon überzeugt, dass die geografischen Gegebenheiten in Zusammenhang mit Overtourism wichtig sind. Der Professor für Tourismus und Dienstleistungsmanagement an der Universität St. Gallen wörtlich: «Zermatt zum Beispiel ist mit dem Auto nicht einmal erreichbar. Das macht den Touristenansturm selbst in der Hochsaison erträglicher.»
Weiter betont Laesser, dass es keine eindeutige Definition von Overtourism gebe – und sich dieses Phänomen nicht oder nur beschränkt allein mit Zahlen messen lasse. «In der Regel ist vor allem von Overtourism die Rede, wenn der öffentliche Raum punktuell stark überlastet und Kapazitätsgrenzen unterschiedlicher Art erreicht oder überschritten sind.»
Es gehe deshalb nicht so sehr um die Zahl der Besucher, sondern um deren Verteilung und ihr Verhalten. «Deshalb kann das Gästeaufkommen an einer Destination als Overtourism wahrgenommen werden, während sich an einem anderen Ort, wo es eigentlich noch viel mehr Gäste hat, niemand gestört fühlt.»
Was ist in Morschach anders?
Ein Beispiel dafür ist die Gemeinde Morschach, Heimat des «Swiss Holiday Park», zu der auch der Stoos gehört. Das 1206-Seelen-Dorf oberhalb des Vierwaldstättersees registrierte vergangenes Jahr 266’958 Logiernächte. Trotzdem wurde es in Zusammenhang mit Overtourism noch nie erwähnt.
Gemeindepräsident Daniel Betschart (56) erklärt sich das mit der «natürlichen Verteilung» von Attraktionen und Sehenswürdigkeiten sowie durch die gezielte Lenkung von Besucherströmen. Eine Rolle spiele eventuell auch die Art der Besucher in Morschach: Familien, Erholungssuchende und Businesskunden. «Unsere Gäste sind möglicherweise weniger auffällig oder störend für die Einheimischen, was dazu führt, dass das Phänomen des Overtourism nicht so deutlich wahrgenommen wird.»
Für Diskussionen sorgt das Gästeaufkommen jedoch auch in Morschach. «Die Beurteilung kann je nach Person und deren Perspektive variieren», so Betschart. Viele Einheimische schätzten die wirtschaftlichen Vorteile, die durch den Tourismus entstehen. Auf der anderen Seite gebe es Bedenken im Hinblick auf eine Überlastung der lokalen Infrastruktur. Betschart: «Stoos-Muotatal Tourismus strebt deshalb danach, eine Besucherlenkung in Morschach zu implementieren, ähnlich der erfolgreichen Umsetzung auf dem Stoos in den letzten Jahren.»
Samnaun hat noch Kapazitäten
In Samnaun sei all das überhaupt kein Thema, versichert Gemeindepräsident Daniel Högger (56). Die Ortschaft mit 791 Einwohnern zählte vergangenes Jahr 154’911 Hotelübernachtungen. An der Belastungsgrenze sieht Högger seine Gemeinde damit aber nicht: «Im Gegenteil, besonders von Mai bis Dezember sind wir alles andere als ausgelastet und hätten gerne mehr Gäste im Tal.»
Es klingt wie eine Bestätigung des St. Galler Tourismusprofessors Laesser: Overtourism lässt sich nur bedingt mit Zahlen messen.