Blick: Herr Nydegger, die Schweiz diskutiert über Overtourism. In Lauterbrunnen wird laut über eine Eintrittsgebühr nachgedacht. Was geht Ihnen dabei durch den Kopf?
Martin Nydegger: An einigen Orten haben wir eine Überlastung zu Spitzenzeiten. Damit ist der Tourismus aber nicht allein. Die gleiche Herausforderung gibt es im ÖV, auf der Autobahn oder beim Shopping. Unsere Branche muss Massnahmen ergreifen, um das in den Griff zu bekommen. Flächendeckend hat die Schweiz aber kein Problem mit Overtourism.
Das sehen einige anders. Dennoch will Schweiz Tourismus (ST), dass auch wieder Gästegruppen aus Asien kommen. Weshalb?
Wir wollen die Asiaten zurück, aber nicht in grossen Gruppen. Wir bewegen die Chinesen und alle anderen Gäste dazu, dass sie für vier bis sechs Nächte in die Schweiz kommen – nicht nur für einen kurzen Abstecher während einer Europareise. Die Fernmärkte helfen uns zudem, unsere touristische Infrastruktur das ganze Jahr über auszulasten: Die Gäste aus Südostasien kommen zwischen September und November, Brasilianer mehrheitlich im Januar, Inder im April/Mai. Dank unserer Aktivitäten im Ausland sind wir in der Lage, die Gäste besser zu lenken. Genau deshalb war ich vergangene Woche in Asien.
Die Welttourismusorganisation geht davon aus, dass sich die Zahl der internationalen Touristen in zehn Jahren fast verdoppelt. Das wird auch die Schweiz betreffen. Weshalb rührt ST im Ausland trotzdem die Werbetrommel für unser Land?
Die globalen Wachstumsprognosen können nicht für die Schweiz übernommen werden. Bei uns wird das Wachstum deutlich geringer sein, weil wir ein sehr etablierter Tourismusstandort sind. Das grösste Wachstum wird es in Destinationen geben, die noch jung und unbekannt sind, etwa in Osteuropa. Zudem rühren wir nicht einfach die Werbetrommel, sondern versuchen die Gäste, wie gesagt, präzise zu lenken. Nicht nur betreffend Reisezeit, sondern auch, was das Reiseverhalten und die Destinationen betrifft.
Aber in Ihren Werbespots stehen meist noch immer touristische Hotspots im Vordergrund, die schon heute überrannt werden. Roger Federer steht vor dem Matterhorn, als er mit Robert De Niro telefoniert.
Das Matterhorn ist im Spot nur kurz im Hintergrund zu sehen, und er wurde während Corona ausgestrahlt, als die Tourismusindustrie noch am Boden lag. Das kann man uns nicht vorwerfen. Im neusten Clip von Federer mit dem Comedian Trevor Noah wird dagegen das Zugfahren in den Vordergrund gestellt. Damit wollen wir erreichen, dass unsere Gäste vermehrt die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen.
Heute würden Sie Roger Federer also nicht mehr vor das Matterhorn stellen?
Nein, in der aktuellen Situation würden wir ein anderes Sujet wählen. Dieses Jahr wird Roger in einem Herbstwald auftreten.
Das Gesetz verlangt, dass Schweiz Tourismus die Nachfrage für das Land als Reise- und Tourismusziel fördert. Ist dieser Auftrag noch zeitgemäss?
Darüber kann man diskutieren. Es dauert jedoch in der Regel sehr lange, ein Gesetz zu ändern. Viel wichtiger ist deshalb, dass wir die Nachfragesteuerung und die Lenkung der Touristenströme schon heute in unserer Strategie ganz oben stehen haben – auch in der Leistungsvereinbarung mit dem Seco.
2023 registrierte die Schweiz fast 42 Millionen Logiernächte. Wie viele mehr verträgt die Schweiz?
Eine exakte Zahl kann ich nicht nennen. Im Schnitt ist aber jedes zweite Hotelbett in der Schweiz leer. Wir sind deshalb noch lange nicht am Limit angekommen.