Bewegende Geschichte von IV-Bezüger – und sein Kampf um die Rente
«Alle verdienen an meinem Leid»

Ein Unfall, dann ein Überfall: Nach über 20 Jahren Kampf erhält Peter Gerber eine Rente von der IV. Doch jetzt sperren sich die Pensionskassen, die ebenfalls eine Invalidenrente zahlen müssten.
Publiziert: 19.11.2024 um 17:25 Uhr
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Aktualisiert: 19.11.2024 um 17:36 Uhr
Seit über 20 Jahren ist Peter Gerber, der in Wirklichkeit anders heisst, auf IV-Geld angewiesen. (Symbolbild)
Foto: Shutterstock

Auf einen Blick

  • Peter Gerber kämpft seit 22 Jahren mit Unfallfolgen und Versicherungen
  • Vergesslichkeit und Schmerzen prägen seinen Alltag nach Kopfverletzungen
  • IV zahlt 1980 Franken monatlich, fünf Pensionskassen streiten um Zuständigkeit
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Peter Johannes Meier
Beobachter

Es war ein schwüler Sommertag 2001. Peter Gerber*, Physiotherapeut und leidenschaftlicher Sportler, hatte Kollegen zu einer kleinen Party eingeladen. Die Stimmung war ausgelassen. «Da kam mir die Idee, mit dem Gartenschlauch für Erfrischung zu sorgen», sagt Gerber, dessen Namen wir geändert haben. Zum Spass bespritzte der damals 32-Jährige seine Kollegen. Da packte ihn einer von hinten an den Armen. Sie stolpern, Gerber fällt zu Boden und knallt mit dem Kopf auf einen Scheitstock.

«Es war ein brutaler Schmerz. Auch am nächsten Morgen hämmerte es noch in meinem Kopf», erinnert sich Gerber. Doch er liess sich nichts anmerken. Er war fit, ging zur Arbeit. Auch an den folgenden Tagen, obwohl die Schmerzen blieben. «Das war wohl ein Fehler. Statt mir Ruhe zu gönnen, wollte ich mir beweisen, dass ich so was wegstecken kann, dass schnell alles wieder gut wird.»

Damals ahnte er nicht, dass die kommenden Jahre zur Odyssee werden würden. Von einem Arzt zum nächsten, von Anwälten zu Sozialversicherungen und wieder zurück.

Freundschaften zerbrechen

Dutzende Ärzte, Gutachter und Juristinnen befassten sich mit seinem Fall: Schleudertrauma und Schädel-Hirn-Trauma. Gerber arbeitete weiter, so gut es ging. Doch seine Leistungen liessen nach, seine Arbeit als Therapeut musste er aufgeben, das Dozieren an einer Schule reduzieren, bis auch das 2008 nicht mehr funktionierte.

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Neben den Schmerzen plagte ihn noch etwas. Kleine Aussetzer, die zu Beginn peinlich waren, sich mit der Zeit aber zu einer Last verschlimmerten, an denen auch Freundschaften zerbrachen.

Er vergisst plötzlich sein Auto

Dass er ein Problem hat, wurde ihm nach einer Autofahrt von seinem Wohnort im Bündnerland in die Stadt Zürich bewusst. Peter Gerber wollte Einkäufe erledigen. Stunden später sass er im Zug von Zürich nach Chur. Noch während der Fahrt dämmerte es ihm: «Was mache ich in diesem Zug? Ich war doch mit dem Auto nach Zürich gefahren.» Er hatte das schlicht vergessen.

Solche «Pannen» begleiten den heute 56-Jährigen seit dem Unfall 2001. Was in seinem Kopf vorgeht, beschreibt er so: «Stellen Sie sich das Gehirn als ein gutes Team vor. Fünf Leute, die perfekt zusammenarbeiten, alles im Griff haben. Doch plötzlich sind zwei immer krank. Nicht immer dieselben, aber es fehlen halt zwei.» Alles braucht viel mehr Zeit, wichtige Informationen gehen verloren oder kommen zu spät an. Und über all das legt sich ein starker Schmerz.

Verbrannte Spaghetti und Tränen

Wohin das im Alltag führen kann, zeigt folgende Episode. Gerber wollte für seine damalige Freundin etwas kochen. Nichts Kompliziertes, Spaghetti. Er steckte die Teigwaren in die Pfanne und zog sich kurz in sein Zimmer zurück. Als seine Freundin eintraf, rauchte es aus der Wohnung. «Ich hatte kein Wasser in die Pfanne gegossen. Die Spaghetti verbrannten roh. Den Rauch hatte ich nicht wahrgenommen.»

Es treibt Gerber Tränen in die Augen, wenn er solche Geschichten erzählt. Sie scheinen harmlos, weil sie jedem mal passieren können. Bei Gerber aber häufen sich solche Vorfälle. «Und wegen der vielen Schmerzen wurde ich auch für Freunde zu einem schwierigen Kumpel.» Viele wandten sich ab. Auch der erwähnten Freundin wurde es irgendwann zu viel. Seither lebt Gerber allein.

Da er nicht mehr als Dozent arbeiten konnte, begann er 2008 eine Weiterbildung und fand auch einen Job. 50 Prozent, vielleicht könnten es bald mehr werden. Glaubte er damals.

Eine böse Begegnung

Eine verhängnisvolle Begegnung warf 2009 alle Pläne über den Haufen. Gerber war am Abend im Park unweit des Bundeshauses unterwegs, als ihm eine hochschwangere, dunkelhäutige Frau begegnete. «Sie stand da und heulte. Ich fragte, ob sie Hilfe brauche, und begleitete sie zur nächsten Tramstation.»

Dort baute sich plötzlich ein erzürnter Mann neben Gerber auf. Er beschimpfte ihn, begann auf ihn einzuschlagen. «Es war wohl ein Bekannter oder ein Freund der Frau. Vielleicht hatte er die Situation falsch interpretiert», sagt Gerber heute. Für Erklärungen war keine Zeit.

Wieder mit dem Kopf aufgeschlagen

Gerber fiel zu Boden, mit dem Hinterkopf auf den Asphalt. «Ich schrie um Hilfe. Es waren Leute auf der anderen Strassenseite. Der Schläger rief ihnen aber zu, ich hätte versucht, Drogen zu verkaufen. Niemand kam.» 

Gerber schleppte sich ins nächste Tram, dann brachte ihn die Ambulanz ins Spital. Es war der Beginn einer weiteren Odyssee. Unzählige Male musste er zu Ärzten, Gutachtern, Anwälten und auch vor Gericht. Die Akten füllen heute über ein Dutzend Ordner.

Pensionskassen drücken sich

Im April 2023 endlich ein Entscheid: Die IV anerkennt eine 80-prozentige Arbeitsunfähigkeit. Gerber bekommt so eine volle IV-Rente, 1980 Franken brutto pro Monat. Eigentlich sollte es mehr sein. Es fehlt die Rente aus der Pensionskasse. Für die meisten IV-Bezüger ist dieser Betrag deutlich höher als die IV-Rente. Und Gerber hatte bis Anfang 2023 immer wieder gearbeitet, mal 80, mal 40 Prozent, dann weniger. Immer so gut es ging, immer wieder für andere Arbeitgeber.

Und da beginnt sein neues Problem: Welche Pensionskasse muss für seine Arbeitsunfähigkeit zahlen? Was genau war der Auslöser für seine Invalidität? Dass er 2001 in seinem Garten auf einen Holzpflock knallte? Oder war es die Attacke 2009 in Bern? Fünf Pensionskassen sind involviert, zahlen will keine. Jede argumentiert anders. Alle aber so, dass die Ursache in eine Zeit fällt, als Gerber gerade nicht bei ihnen versichert war.

Das Gesetz ist gut gemeint, aber …

Solche Unklarheiten sind nicht unüblich, vor allem wenn es um lange Zeiträume mit Teilzeitanstellungen geht und viele Arbeitgeber involviert sind. Damit das nicht auf dem Buckel der Betroffenen ausgetragen wird, gibt es ein Gesetz, das die letzte Pensionskasse in die Pflicht nimmt. Sie müsste die Rente als Vorleistung zahlen, kann dann aber Rückforderungen an andere Kassen stellen, falls sie sich für die Rente nicht zuständig sieht. Doch in der Praxis funktioniert das wohl gut gemeinte Gesetz nicht. Die Vorleistungspflicht kann relativ einfach grundsätzlich infrage gestellt werden.

So argumentiert Gerbers letzte Pensionskasse, gemäss Dossier der Invalidenversicherung sei unklar, wann genau Gerber jeweils mit einer Versicherungsdeckung der beruflichen Vorsorge gearbeitet habe, wann allenfalls nicht. Weil er zudem oft Teilzeit gearbeitet habe, sei auch unklar, ob die Invalidität zu einem von der beruflichen Vorsorge nicht gedeckten Zeitpunkt eingetreten sei.

Und: «Bei einer solchen Ausgangslage muss der Versicherte selbst aufzeigen können, wann eine Versicherungsleistung bestanden hat.» Kurz: Er muss klagen, wenn er zur PK-Rente kommen will. 

20’000 Franken für neue Verfahren

«Die Schwelle für eine Vorleistungspflicht der letzten PK ist mittlerweile so hoch angesetzt, dass sie in der Praxis kaum noch eine Bedeutung hat», sagt Rechtsanwalt Kaspar Gehring, der Gerber in der Angelegenheit vertritt. Oft müssten gleich mehrere Pensionskassen eingeklagt werden, weil unklar sei, wer letztlich für die Rente zuständig ist. «Es ist stossend, dass sich IV-Bezüger durch diesen Dschungel kämpfen müssen. Genau das hätte ja mit dem Gesetz verhindert werden sollen», kritisiert Gehring.

Für Peter Gerber ist es vor allem deprimierend. Es könnte nämlich nochmals Jahre dauern, bis die PK-Frage geklärt ist. Und die Klagen muss der IV-Bezüger selber finanzieren. Rund 20’000 Franken könnte es kosten, falls Urteile an höhere Instanzen weitergezogen werden und er am Schluss unterliegt.

«Irgendwie hatte ich ja mit finanzieller Unterstützung gerechnet, weil es mir wirklich nicht gut geht», sagt Gerber. Seit über zwei Jahrzehnten sehe er aber vor allem Ärzte, Gutachter und Juristen, die Geld an seinem Fall verdienen. «Das zermürbt – weil es irgendwie nie aufhört.»

*Name geändert 

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