Auf einen Blick
Die Reise wird für Lisa H. zur emotionalen Achterbahnfahrt. Die Amerikanerin kommt ins italienische Bassano del Grappa, um ihre Verwandten zu treffen. Sechs Geschwister ihrer Mutter hat sie ausfindig gemacht, darunter Giovanna, deren Zwillingsschwester – sowie zahlreiche Cousinen und Cousins. Sie fallen sich in die Arme, als hätten sie sich lange nicht mehr getroffen. Dabei sehen sie sich an jenem Frühlingstag 2018 zum ersten Mal überhaupt. Niemand von ihrer italienischen Familie hatte bis dahin von Lisas Existenz gewusst. Inzwischen war sie fast 56 Jahre alt.
Ihre Mutter Aurora G. war im Februar 1962 als Schwangere nach Basel gereist. Sie war 25 und ledig, arbeitete einige Monate in der Gastronomie, gebar ein Baby – und kehrte im Spätsommer nach Italien zurück. Als wäre nichts geschehen.
Sie wollte der Mutter in die Augen schauen
«Ich träumte immer davon, meiner Mutter persönlich sagen zu können, dass ich sie liebe. Und dass ich dankbar bin, dass sie mir ein wunderbares Leben geschenkt hat», sagt Lisa H. zum Beobachter. Doch dafür war es bereits zu spät. Aurora G. war 15 Jahre zuvor gestorben. «Aber ich konnte in die Augen ihrer Zwillingsschwester schauen, und dann habe ich ihr das Gleiche gesagt.» Giovanna, ihre Tante, antwortete: «Keine Sorge, jetzt bist du ja zu Hause.»
Lisa H. lebt heute im US-Bundesstaat Virginia. Ihren Namen bekam sie von ihren Adoptiveltern: der Vater ein Kadermann des amerikanischen Geheimdienstes CIA, die Mutter Ärztin. Die beiden hatten nie ein Geheimnis darum gemacht, dass Lisa nicht ihr leibliches Kind war. Lange Zeit wusste sie aber nicht mehr, als dass ihre Wurzeln in Italien waren.
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Die Schachtel mit den Dokumenten
Erst als ihr Vater 1999 stirbt, findet Lisa H. eine Schachtel mit den Adoptionsunterlagen – und damit auch die Personalien ihrer leiblichen Mutter. Und sie erfährt ihren eigentlichen Namen: Aurora. Geboren am 23. Juni 1962 im Frauenspital Basel. Die Mutter hatte ihr ihren eigenen Namen vermacht.
Erst Jahre später macht sich Lisa H. auf die Suche nach ihren Wurzeln – nach mehreren Schicksalsschlägen. «Innerhalb weniger Monate verstarben mein Bruder und meine Schwiegermutter. Und ich überlebte einen Schlaganfall», sagt Lisa H. «Damals entschied ich mich, in Italien nach meiner Geburtsfamilie zu suchen.»
Die Rolle der Alice Honegger
Doch wie kam es überhaupt dazu, dass sie als Baby von ihrer Mutter getrennt wurde? Und wie kam sie zu ihren neuen Eltern in die USA? Das erfährt Lisa H. erst dank Recherchen des Beobachters.
Eine zentrale Rolle in der Lebensgeschichte von Lisa H. spielte nämlich eine altbekannte, überaus aktive Schweizer Adoptionsvermittlerin: Alice Honegger aus St. Gallen. Fast 50 Jahre lang hat die Fürsorgerin Schweizer Babys an kinderlose Ehepaare vermittelt – auch ins Ausland. Oder sie besorgte Babys in Sri Lanka und anderen Ländern – für kinderlose Paare in der Schweiz.
Honeggers Dienste waren willkommen. Denn bis weit in die 1970er-Jahre drängten Vormundschaftsbehörden unverheiratete Frauen dazu, ihre Neugeborenen zur Adoption freizugeben. Meist agierte Honegger dabei Hand in Hand mit den zuständigen Behörden.
In Basel auf den Spuren der Mutter
Es ist Sommer 2023 – und Lisa H. zurück in Basel, 61 Jahre nach ihrer Geburt. Sie schaut sich beim alten Güterbahnhof um, wo ihre Mutter seinerzeit in der «Speiseanstalt SBB» als «Küchengehilfe» arbeitete. Sie besucht die Frauenklinik, wo sie geboren wurde. Und im Staatsarchiv sieht sie zum ersten Mal die Originalunterschrift ihrer leiblichen Mutter: Aurora G. «Warum gab sie mir ihren Namen?», fragt Lisa H. «Vielleicht hoffte sie, ich würde sie dereinst suchen.»
Denn das Schicksal von Mutter und Tochter war zum Zeitpunkt der Geburt bereits besiegelt. Im medizinischen Bericht war notiert: «Kind z. Adoption». Und der Mutter beschied die Fremdenpolizei, dass sie nach der Geburt «innert angemessener Frist» ausreisen müsse.
Erschreckend dabei: Die Fürsorgerin des Frauenspitals nahm direkt mit Alice Honegger Kontakt auf. Einen Tag nach der Geburt willigte die Mutter schriftlich ein, ihr Kind zur Adoption freizugeben und Alice Honegger als Vermittlerin einzusetzen. Die Fürsorgerin des Spitals teilt das auch gleich der Fremdenpolizei mit. Dem Zivilstandsregister wurde das Baby zwar gemeldet, die Vormundschaftsbehörde hingegen wurde nicht informiert – weil die Mutter ja ausreise.
Wie freiwillig war die Adoption?
Doch hat Aurora G. ihr Baby wirklich freiwillig weggegeben? Zwei Tage nach der Geburt reiste sie nach Italien. Laut den Akten der Fremdenpolizei suchte sie dort bei ihrer Mutter Rat. Diese soll ihr gesagt haben, es sei ihre Sache, was sie mit dem Kind anstelle. Aurora G. reiste zurück nach Basel. Kaum angekommen, wurde sie erneut aufs Amt zitiert. Hier gab sie zu Protokoll, sie werde mit dem Baby nach Italien ausreisen und es dort in ein Kinderheim geben.
Doch dieser Plan der Mutter schien die Schweizer Behörden nicht zu interessieren. Das Baby ist gerade mal einen Monat alt, als das Frauenspital das «herzige dunkle Mädchen» definitiv bei Alice Honegger für eine Adoption anmeldet. Auf dem Formular heisst es: «Passt sowohl in städtische wie auch in ländliche Verhältnisse.» Der Vater sei ein 26-jähriger Italiener aus Florenz, der Militärdienst leiste – das Baby «dürfte folglich normal und gesund sein».
Am 1. August 1962 holt eine Mitarbeiterin von Alice Honegger das Baby im Spital ab. In den Akten notiert sie: «Sympathisches Mädchen, schöne Gesichtszüge, grosse dunkle Augen, schaut recht aufgeweckt und klug in die Welt. Hat dunkelbraunes Haar.»
Wohlhabendes amerikanisches Paar sucht …
Rückblende: Gut zwei Jahre zuvor, 1959, kontaktiert der CIA-Kadermann Paul H. die Babyvermittlerin Alice Honegger in Rapperswil SG. Er war damals in Paris stationiert, offiziell als Erster Sekretär der US-Botschaft. Ein Arbeitskollege hatte ihm den Tipp gegeben, sich an Honegger zu wenden. Honegger antwortet und verlangt Fotos, Referenzen und Lebensläufe.
Im August 1960 treffen sich Paul und Mary H. schliesslich im Büro von Honeggers Organisation «Private Mütter- und Kinder-Fürsorge» mit einer Mitarbeiterin. Diese notiert nach dem Treffen: «Herr und Frau H. sind äusserst sympathische Menschen, gütig, sehr ruhig, und ich empfinde sie gar nicht als typische Amerikaner. Sie haben bereits ein Adoptivbübchen, das recht gut zu ihnen passt. Sie möchten unbedingt an die Aufnahme eines Adoptivkindes denken und nicht warten, bis sie zurück in die USA gehen.»
Doch das amerikanische Paar muss sich gedulden. «Wir haben uns bisher erfolglos bemüht. Aber wir geben die Hoffnung nicht auf, dass ein geeignetes kleines Mädchen auftauchen wird», schreibt Alice Honegger nach Paris. Gleichzeitig tönt sie an, sie «erhalte» womöglich bald ein «ungarisches Mädchen». Doch daraus wird nichts.
Die Strafuntersuchung gegen «Frl. Honegger»
Was das amerikanische Paar damals nicht wissen konnte: Wenige Jahre später, 1965, wird das Detektivbüro der Kantonspolizei St. Gallen eine Strafuntersuchung gegen Honegger durchführen und dabei protokollieren: «Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Frl. Honegger bei solchen Kinderhändeln den Meistbietenden suchte und von solchen auch noch Pflegekosten verlangte, obwohl diese bereits durch die Kindsmutter bezahlt worden waren.»
Anlass für die polizeilichen Abklärungen waren wiederholte Reklamationen über «unsaubere Abrechnungen», «fragwürdige Platzierungen», «verwirrende Aktenführung» und «unseriöses Gebaren». Gemäss Polizeibericht war sogar die Rede von «Kinderhandel».
«Scharf» auf reiche amerikanische Familien
Das Verfahren wurde schliesslich ohne Ergebnis eingestellt; doch die Erkenntnisse der Polizei waren denkwürdig: «Obwohl genügend bestausgewiesene Familien aus der Schweiz von Frl. Honegger kein Kind erhalten hätten, habe diese laufend Auslandplatzierungen vorgenommen, vermutlich um des lieben Geldes willen. Auf die Platzierung von Kindern zu reichen Amerikanerfamilien sei Frl. Honegger immer ‹scharf› gewesen.»
Honegger hatte zuvor für den Gemeinnützigen Frauenverein Zürich gearbeitet, war dort aber fristlos entlassen worden. Darauf gründete sie die «Private Mütter- und Kinder-Fürsorge». Als Ende der Fünfzigerjahre erneut Kritik an ihrer Arbeit laut wurde, stellte der Verein ihr einen «Arbeitsausschuss» zur Seite, der die Vermittlungen ins Ausland überwachen sollte.
1964 wurde sie vom Verein entlassen. Die Präsidentin sagte in der Strafuntersuchung: «Heute – und dies ist die Tragik der ganzen Geschichte – arbeitet Frl. Honegger im gleichen Stil auf eigene Rechnung in Bollingen weiter. Sie hat sich dort ein Haus erstanden, in welchem sie ledige Mütter beherbergt und deren Kind dann ‹verschachert›.»
Ein «very handsome baby»
Von alldem wussten Paul und Mary H. nichts. Sie mussten sich noch bis 1962 gedulden, bis sie schliesslich ihr Baby erhielten. Am 2. August – sechs Wochen nach der Geburt von Aurora G. – schreibt Alice Honegger dem CIA-Mann nach Paris: «Wir haben seit Oktober nichts mehr von Ihnen gehört, und wir wissen nicht, ob Sie schon ein passendes Kind gefunden haben oder ob Sie interessiert sind an einem kleinen Baby, geboren am 23.6.1962, italienische Nationalität.» Es sei ein «very handsome baby» mit braunen Haaren und Augen.
Die Übergabe verzögert sich, das Baby braucht einen Pass. Das Prozedere ist kompliziert – und die Mutter ja bereits wieder zurück in Italien. So kommt das Baby vorübergehend zu einer Pflegefamilie in Schaffhausen. Ende Oktober 1962 schliesslich kündigt Mary H. an, sie werde das Kind in der Schweiz abholen.
Über den Preis, den Paul und Mary H. für das Kind bezahlt haben, steht nichts in den Akten. Am 13. November 1962 schreibt Alice Honegger dem Paar: «Ich hoffe, Sie werden dieses Kind genauso lieben wie Ihr erstes Kind.» Und: «Wir danken Ihnen auch für die freundliche Zuwendung unserer wohltätigen Agentur.»
Inzwischen ist sie Italienerin
Lisa H. sitzt im Garten des Frauenspitals Basel, wo sie vor 61 Jahren geboren wurde. Sie wirkt nachdenklich, aber sie hadert nicht mit der Vergangenheit. «Ich hatte es gut bei meinen Adoptiveltern in den USA und erlebte eine wunderbare Kindheit.»
Doch seit Lisa H. in Bassano del Grappa die Schwester ihrer Mutter sowie Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins kennengelernt hat, ist sie von der Stadt nördlich von Venedig und deren Menschen nicht mehr losgekommen. Die letzten drei Jahre lebte sie gemeinsam mit ihrem Mann dort. Inzwischen erhielt sie aufgrund ihrer Abstammung auch die italienische Staatsbürgerschaft zugesprochen. «Das ist ein Geschenk meiner Mutter», sagt sie. «Genauso, wie sie mir ihren Namen geschenkt hat.»
Diese Beobachter-Recherche wurde unterstützt durch den Journalismfund Europe.