«Die meisten Leute haben nur noch Handy und Karte»
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Kaum Bargeld für Obdachlose:«Die meisten Leute haben nur noch Handy und Karte»

Bares ist Rares
Betteln lohnt sich kaum mehr

Während die Spendentöpfe der Hilfswerke prall gefüllt sind, haben Menschen auf der Strasse hartes Brot zu kauen. Sie sind Opfer einer Gesellschaft ohne Bargeld.
Publiziert: 25.12.2022 um 00:23 Uhr
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Aktualisiert: 28.12.2022 um 10:29 Uhr
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Bankkarte oder Smartphones sind hierzulande zu den beliebtesten Zahlungsmitteln geworden. Das spüren besonders die Menschen auf der Strasse. Sie gehören zu den stillen Opfern einer Gesellschaft, die immer weniger Cash bei sich trägt.
Foto: Getty Images
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Sven ZauggRedaktor SonntagsBlick

Ein Wisch mit der Karte, ein kurzes Piepsen und schon ist die Rechnung beglichen. Schnell, einfach, kontaktlos. Bankkarte oder Smartphones sind hierzulande zu den beliebtesten Zahlungsmitteln geworden. Laut Umfragen bevorzugen nur noch 35 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer Bargeld – es sind vor allem Personen mit geringem Einkommen. Selbst in Geschäften des täglichen Bedarfs sinkt die Akzeptanz von Münzen und Scheinen stetig.

Das spüren besonders die Menschen auf der Strasse. Sie gehören zu den stillen Opfern einer Gesellschaft, die immer weniger Cash bei sich trägt. Einige besitzen weder Bankkonto noch Handy, eine schnelle Überweisung via Twint kennen sie nicht, nur Münz könnte ihre Not etwas lindern.

Walter von Arburg von den Sozialwerken Pfarrer Sieber sagt: «Viele unserer Klientinnen und Klienten berichten davon, dass immer mehr Passanten entschuldigend abwinken, sie hätten kein Bargeld bei sich.»

Die Corona-Pandemie hat den Trend zur bargeldlosen Gesellschaft beschleunigt. Wie rasant zeigt eine Zahl: Alleine der mobile Bezahldienst Twint hat in nur einem Jahr 700'000 Nutzerinnen und Nutzer dazugewonnen. Er zählt unterdessen nach eigenen Angaben rund vier Millionen «aktive» Konten.

Bettler weichen aus

«Mit weitreichenden Folgen», ergänzt Walter von Arburg. «Um zu Geld zu kommen, weichen die Bettler auf illegale Tätigkeiten aus wie Prostitution, Hehlerei und Diebstahl. Oder sie machen sich an Touristen heran, die oft noch Bargeld bei sich haben.»

Auch die Heilsarmee hat bemerkt, dass die Schweizer Bevölkerung kaum noch Bargeld bei sich führt, und hat reagiert: Sprecher Holger Steffe sagt: «Bei der klassischen Topfkollekte, unserer Strassen-Sammelaktion zur Weihnachtszeit, bemerken wir ebenfalls Tendenzen zum bargeldlosen Zahlen und bieten seit einigen Jahren das Spenden über Twint an.»

Während die Menschen auf der Strasse kaum noch Almosen erhalten, sind die Spendentöpfe der hiesigen Hilfswerke prall gefüllt. In Megakrisen zeigt sich die Schweizer Bevölkerung besonders solidarisch.

Bereits wenige Wochen nach Beginn des Ukraine-Kriegs hatten die Hilfswerke 285 Millionen Franken Spendengelder gesammelt, fast so viel wie die Tsunami-Spenden im ganzen Jahr 2005. Mit 300 Millionen Franken galten diese bisher als Spendenrekord für ein einzelnes Ereignis.

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Rekord beim Roten Kreuz

2021 wurden in der Schweiz insgesamt zwei Milliarden Franken an Hilfswerke gespendet. 70 Prozent davon kamen aus privaten Haushalten. Ein Rekord, der heuer nochmals übertroffen werden dürfte, wie Angaben der grössten Schweizer Hilfswerke vermuten lassen. Zum Beispiel beim Roten Kreuz, dem ältesten und grössten Hilfswerk der Schweiz. Abschliessende Zahlen für das aktuelle Jahr liegen zwar noch nicht vor. Doch der Rekord aus dem vergangenen Jahr mit 44 Millionen Franken dürfte laut Sprecherin Sabrina Hinder locker geknackt werden. Insbesondere das Volumen bei den Onlinespenden nimmt kontinuierlich zu. Hinder: «Seit der Corona-Pandemie ist das Vertrauen in die digitalen Zahlungsmittel gestiegen und viele Personen sind vertrauter damit geworden. Dies wirkt sich auch auf das Spenden aus.»

Auch die Glückskette beobachtet dieses Jahr eine ausserordentlich hohe Solidarität, wie Sprecher Fabian Emmenegger sagt: «Die Ukraine-Sammlung war die zweitgrösste in der Geschichte der Glückskette.» Die intensive, mediale Aufbereitung des Themas war dabei zentral: «Je mehr Sensibilisierung und Aufklärungsarbeit zu einem komplexen Thema nötig ist, desto schwieriger ist das Sammeln von Spenden», sagt Emmenegger.

Ein Rekordergebnis dürfte auch Helvetas erzielen: Bis Ende November verzeichnete das Hilfswerk Spenden in der Höhe von 43,5 Millionen Franken. So viel wie noch nie seit der Gründung 1955. Und Caritas Schweiz gibt an, dass die Spenden bereits vor Weihnachten deutlich über dem Vorjahresergebnis von 28 Millionen Franken liegen.
Dass diese Rekorde gleich reihenweise purzeln, ist nicht selbstverständlich. Denn auch hierzulande belasten steigende Lebenskosten das Haushaltsbudget. Noch hat die Teuerung das Spendenaufkommen nicht tangiert. Und noch bleiben die Hilfswerke für 2023 zuversichtlich. Noch.

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