Ausgestempelt wegen Zettelkasten
Heute muss die günstigste Krankenkasse der Schweiz schliessen

Heute Abend schliesst die Krankenkasse Turbenthal im Zürcher Oberland für immer ihre Türen – nach 130 Jahren in Betrieb. Obwohl sie die billigste Krankenkasse im Land war. Grund: Sie ist Bundesbern nicht modern genug.
Publiziert: 30.06.2018 um 10:25 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 16:33 Uhr
Günstigste Krankenkasse des Landes schliesst
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Nicht modern genug:Krankenkasse Turbenthal schliesst
Konrad Staehelin (Text) und Siggi Bucher (Fotos und Video)

Heute Abend fliessen Tränen, ist sich Hansruedi Bosshard (74) sicher. Der ehemalige Präsident der Krankenkasse Turbenthal im Zürcher Oberland, gegründet 1888, sagt zu BLICK: «130 Jahre Geschichte gehen heute zu Ende, das lässt keinen kalt.» Die Generalversammlung wird per Abstimmung die Auflösung des Vereins beschliessen, der seinen Mitgliedern bis zuletzt die billigsten Krankenkassenprämien der Schweiz garantierte. Dann gibts ein leckeres Essen. 

Das ist passiert: Im Oktober letzten Jahres stützte das Bundesverwaltungsgericht den Entscheid des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), der Krankenkasse Turbenthal die Betriebsbewilligung zu entziehen. Begründung: Heute muss eine Krankenkasse digital geführt sein (BLICK berichtete). Zumindest zu einem Minimum, damit sie zum Beispiel die Versichertendaten in elektronischer Form ans BAG in Bern schicken kann.

Gericht knallhart: Gesetz ist Gesetz

Daniel Rüegg (64), seit 34 Jahren Chef und einziger Mitarbeiter der Krankenkasse Turbenthal, schickte die Angaben seiner 400 Versicherten stattdessen einmal pro Jahr per Post. Er arbeitete mit Karteikärtchen und einer Schreibmaschine vom Typ Hermes Ambassador.

Sogar der Bundesrat musste sich mit der Sache beschäftigen. Er musste sich letzten Sommer zur Interpellation des Zürcher SVP-Nationalrats Gregor Rutz (45) äussern, der Rüegg verteidigte. Tenor des Bundesrats: Gesetz ist Gesetz.

BLICK besucht Rüegg in seinem Büro, direkt an der Hauptstrasse gelegen, wo der Schwerverkehr zwischen Rapperswil-Jona SG und Winterthur ZH durchs Tösstal donnert.

«Der Computer macht mich nervös!»
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Turbenthaler Krankenkasse will sich nicht digitalisieren:«Der Computer macht mich nervös!»

«Hätte ich mir einen Computer und die nötige Software gekauft, könnte ich meinen Versicherten nicht mehr die günstige Prämie von heute bieten», sagt Rüegg. «Darum ist es am sinnvollsten aufzugeben.» Auf einen Rekurs beim Bundesgericht hat er verzichtet –Lichterlöschen.

Rüegg brennt trotzdem noch. Erst redet er sich in Rage, dann wieder in Ekstase. Wie ein Bub, der gerade vom aufreibenden ersten Klassenlager nach Hause gekommen ist und alles auf einmal erzählen will.

Hätte gerne weitergemacht, hat sich nun aber zum Aufgeben überwunden: Daniel Rüegg vor seinem Bürohüsli mitten in Turbenthal.
Foto: Siggi Bucher

Birkenstock und Wollsocken

Im Dorf mögen sie ihn, den Dani. «Ein Grüner, der seine Einstellung konsequent lebt», sagt eine. Enorm bescheiden sei er. Den Kaffee am Morgen holt er in der Beiz neben dem Büro, dem Sternen, weil ihm eine eigene Maschine nicht ökologisch genug ist. Zur Arbeit kommt er mit dem Velo, im Winter mit dem Schlitten. Jetzt im Büro trägt er, na klar, Birkenstock-Sandalen. Und glismete Wollsocken, zu Jeans und Hemd.

Rüegg weiter: «Am schlimmsten finde ich, dass die Versicherten sich jetzt eine neue Kasse suchen müssen, wo sie deutlich mehr bezahlen müssen.» Ein Beispiel: Jakob Schirmer (82) zahlte für die Grundversicherung bisher gut 3000 Franken im Jahr, neu werden es über 4700 sein. Im Schnitt bezahlen Schweizer für die Grundversicherung mit 300 Franken Franchise dieses Jahr 465 Franken pro Monat – bei der Krankenkasse Turbenthal sind es nur 260.

Weil so viele bei ihr versichert sein wollten, musste sich die Billigkasse auf 400 Versicherte aus den Gemeinden Turbenthal, Wila und Wildberg beschränken.

Jetzt kauft sich Rüegg zwei Geissen

Auch Rüegg wird die satte Prämienerhöhung treffen. Er wechselt, wie alle seiner Versicherten, die sich nicht aktiv eine andere Kasse ab 1. Juli ausgewählt haben, zur KVF in Landquart GR. Dort kostet die Grundversicherung 405 Franken – 145 Franken mehr als die Turbenthal bis heute. Insbesondere, da Rüegg sich trotz des Erfolgs der Krankenkasse und mehrerer Millionen Rücklagen für schwere, teure Krankheitsfälle nie einen hohen Lohn ausgezahlt hat. 50'000 Franken pro Jahr, verrät er.

«Ich brauche nicht viel zum Glücklichsein.» Ein altes Fachwerkhaus, ein paar Hühner, jetzt will er sich noch zwei Geissen zutun. Sein kleines Treuhandbüro, mit dem er früher Leuten die Steuererklärung machte, will er wieder öffnen. 

«Ich freue mich auf diese Zeit», sagt er. Ist er denn gar nicht wehmütig? «Im Moment nicht. Aber wenn dann der Moment da ist, könnte es schon hochkommen.» Ja, heute Abend könnten die Tränen fliessen.

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