Der Schweizer Arbeitgeberverband sorgt für Jobs und Wohlstand im Land. Dafür feiert sich die Arbeitgeberseite seit Jahrzehnten. Doch nun crasht jemand die Party: Philippe Wampfler (45) übt im Interview mit Blick harsche Kritik am Schweizer Arbeitsmarkt: «Es gibt in der Schweiz zahlreiche schlechte Berufe, die eigentlich niemand machen will», so seine Worte. Wampfler ist Lehrer, Autor und Dozent am Institut für Erziehungswissenschaften an der Universität Zürich.
Er ist überzeugt, dass viele Leute ihren Beruf nur aus wirtschaftlichem Zwang ausüben. Als Beispiele nennt er unter anderem die Arbeit als Fleischfachmann oder -frau und in der Reinigungsbranche. Dabei kritisiert er Löhne, Arbeitszeiten, körperliche Belastung, fehlende Aufstiegsmöglichkeiten und Sinnhaftigkeit einer Tätigkeit. «Wir müssen uns viel öfter die Frage stellen, ob gewisse Arbeitsbedingungen mit der Würde des Menschen vereinbar sind», fordert er.
«Einstiegsmöglichkeiten» und «Sprungbrett»
«Die Aussage, viele Arbeitnehmende würden die angeblich ‹schlechten Berufe› einzig aus wirtschaftlichen Zwängen tun, ist vermessen», entgegnet Simon Wey (46), Chefökonom des Arbeitgeberverbands SAV. Es sei geradezu eine «Geringschätzung dieser wichtigen Jobs, ohne deren Ausübung ein Zahnrad im Räderwerk der Wirtschaft fehlen würde».
Wey warnt davor, «gewisse Jobs als ‹schlechte Jobs› zu brandmarken». Je nach Person falle die Einschätzung zu guten oder schlechten Jobs völlig unterschiedlich aus. Das hänge auch mit dem jeweiligen Arbeitgeber zusammen. «Die Betriebe tun viel dafür, dass die Arbeiten sowohl physisch als auch inhaltlich zunehmend attraktiver werden.»
Der Chefökonom sieht in einem Teil der kritisierten Jobs auch ideale Einstiegsmöglichkeiten in den Arbeitsmarkt. Die Jobs könnten ein «Sprungbrett sein, um sich im grösstenteils durchlässigen Bildungssystem der Schweiz oder karrieremässig nach oben zu arbeiten.»
«Berufsleute arbeiten nicht aus Zwang bei uns»
Wampfler hegt gerade gegenüber dem Metzgerberuf grosse Bedenken: Die wenigsten würden in der industriellen Tötung und Verarbeitung von Tieren eine sinnstiftende Tätigkeit sehen, vermutet er.
«Die Aussagen sind sehr plakativ», sagt Philipp Sax (41), Vizedirektor des Schweizer Fleisch-Fachverbands SFF. «Die Berufsleute arbeiten nicht aus Zwang bei uns, sonst würden sie die Branche schnell wieder verlassen.»
So ganz überrascht ist Sax von der Kritik aber nicht: «Die Handwerksberufe geniessen momentan nicht die Wertschätzung, die sie verdienen. In manchen Köpfen steckt ein völlig veraltetes Bild von unserer Arbeit.» Die Berufe in der Fleischbranche seien inzwischen klar unterteilt. Die Schlachtung von Tieren sei nur einer von vielen Bereichen. Daneben gebe es die Arbeit in der Veredelung, im Verkauf oder Eventmanagement.
Die Fleischbranche poliert ihr Image auf
Trotzdem hat die Fleischbranche grosse Schwierigkeiten, Fachkräfte oder Nachwuchs zu finden. «Nach einem jahrelangen Rückgang konnten wir die Zahl der Beschäftigten in den vergangenen Jahren aber stabilisieren», unterstreicht Sax.
Die Branche hat vor Jahren die Berufsbilder überarbeitet und eine Rekrutierungs- und Charmeoffensive gestartet. Sie ist an Schulen und Messen präsent, organisiert Informationsveranstaltungen und animiert ihre Mitglieder zur Durchführung von Tagen der offenen Tür und Schnupperkursen. Diese Massnahmen zeigen Erfolg. So entscheiden sich auch deutlich mehr Frauen für eine Ausbildung in der Branche.
Sax sieht zahlreiche Argumente für seine Branche: «Die Angestellten packen bei der Herstellung von Lebensmitteln mit an und haben eine hohe Jobsicherheit sowie gute Aufstiegsmöglichkeiten.»
Die meisten würden am liebsten nur drei Tage arbeiten
Der Arbeitgeberverband möchte im Kampf gegen den akuten Fachkräftemangel insbesondere bei den Rahmenbedingungen für Mütter und ältere Arbeitnehmende ansetzen. Sie sollen mehr oder länger arbeiten.
Die Realität ist jedoch eine andere: Das Arbeitsvolumen pro Person ist in den vergangenen 30 Jahren kontinuierlich um mehr als zehn Prozent gefallen. Und die Meisten würden gern nur drei Tage pro Woche arbeiten, wenn sie denn frei von jedem wirtschaftlichen Druck wären. Das hat jüngst eine Umfrage des Forschungsinstituts Sotomo ergeben.
«Dass man eine Arbeit auch tut, weil es wirtschaftliche Zwänge gibt, liegt in der Natur der Sache und überrascht nicht weiter», sagt Wey.
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