Ansturm auf Schlichtungsstellen
Mietzinsrechner des Mieterverbands rechnet falsch

Das Tool des Mieterverbands spuckt falsche Resultate aus. Nun fechten viele Schweizer die Mieterhöhung an – ohne Aussicht auf Erfolg.
Publiziert: 05.07.2023 um 10:54 Uhr
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Aktualisiert: 15.01.2024 um 15:40 Uhr
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Schweizer Mieterinnen und Mieter sollten den Rechner des Mieterverbands mit Vorsicht benutzen.
Foto: Keystone
Andreas Valda
Handelszeitung

Der Berner HEV-Sekretär Hans Bättig hat schon viele Verhandlungen vor Mietschlichtungsstellen gesehen, nicht nur in Bern. Er hilft der Vermieterschaft bei der korrekten Berechnung von Mietzinserhöhungen. Als Anwalt sollte er sich keine Fehler leisten. Und so hat er eine gewisse Leidenschaft dafür entwickelt, die Mietpreiserhöhungen selber zu berechnen. «Die Materie ist kompliziert. Flüchtigkeitsfehler passieren selbst den besten Profis», sagt Bättig. Deshalb vergleiche er immer die Resultate mehrerer Tools: «Um sicher zu sein.»

So fand Bättig auch einen Fehler auf dem Mietzinsrechner auf der Homepage des Mieterinnen- und Mieterverbandes (MV). Dieser Rechner ist der einfachste, aber auch der fehleranfälligste, weil er nicht alle Elemente erfasst – im Gegensatz zum Rechner des Hauseigentümerverbandes.

Beispiel: Wer angibt, die letzte Mietzinsanpassung sei am 3. September 2013 erfolgt, bei einer gängigen Kostensteigerung von 0,5 Prozent Kostenpauschale, dem spuckt die Maschine einen Minuswert aus. Die Miete sei zu senken, heisst es im MV-Tool. Eine Monatsmiete von 1000 Franken müsste auf 987 Franken gesenkt werden. Die Mieterschaft solle eine allfällige Mietzinserhöhung anfechten. Der Brief dafür ist pfannenfertig vorgedruckt.

Tatsächlich aber hat die Vermieterschaft das Recht, die Miete auf 1014 Franken zu erhöhen. Der MV räumt diesen Fehler ein: Das Resultat des MV-Rechners sei bei diesem «Spezialfall möglicherweise tatsächlich falsch», so die zuständige Person des Mieterverbandes: «Wir müssen das intern abklären.»

Dieser sogenannte «Spezialfall» tritt in den Monaten einer Senkung des Referenzzinses auf. Das Programm versteht offenbar nicht taggenau, wann die Veränderung des Referenzzinses in Kraft getreten ist.

Dies war bisher neunmal der Fall seit 2008 – seit dem Bestehen des gesetzlichen Referenzzinssystems. Der Mietreferenzzins des Bundes definiert, wie stark die Kostensenkung oder Kostensteigerung einer Wohnungsmiete ist aufgrund steigender oder sinkender Hypothekarzinsen. Zuletzt erhöhte sich dieser Referenzzins am 2. Juni 2023 um einen Viertelprozentpunkt auf 1,5 Prozent. Deshalb hat die Hauseigentümerschaft generell das Recht, die Wohnungsmieten anzuheben, solange sie gewisse rechtliche Voraussetzungen dafür erfüllt.

Wie viele Mietverträge von diesem «Spezialfall» betroffen sind, ist nicht herauszufinden, denn es fehlt eine Statistik dazu. Es dürften schätzungsweise mehrere hundert Haushalte in der Schweiz sein, die jetzt möglicherweise irrtümlich eine Senkung vor Mietschlichtungsstellen beantragen und dann später, vor Schiedsgericht, mit einer Erhöhung konfrontiert sind.

«Fehlerhafte Anfechtungen helfen niemandem»

Bättig sagt, er habe diesen Fehler bereits der Sektion des bernischen Mieter- und Mieterinnenverbandes gemeldet. Sein Hauptanliegen: «Damit nicht Dutzende von Haushalten eine Mietzinserhöhung vergeblich anfechten und die Schlichtungsbehörden ihnen sagen: Sie haben falsch gerechnet.» Bättig sorgt sich auch um die Überlastung der Schlichtungsstellen. «Fehlerhafte Anfechtungen sind für niemanden gut, weder für die Hauseigentümer und die Mieterschaften noch für die Schlichtungsstellen.»

Weiter mögliche Anfechtungsfallen

Der MV-Rechner enthält im unteren Bereich der Internetseite einen zweiten Mietrechner, der ebenfalls einfach zu bedienen ist. Der Einstieg erfolgt dort über die Ortssuche. Und es findet sich im Rechner ein Wahlfeld, das für Laien schwierig zu verstehen ist und wohl öfter zu fehlerhaften Resultaten führen dürfte. Es handelt sich um das Eingabefeld der sogenannten Kostenpauschale: Das Feld ist frei einstellbar, zum Beispiel auf «0 Prozent», «0,25 Prozent», «0,5 Prozent» oder «1 Prozent».

Wenn nun der Nutzer mit Wohnort Bern im MV-Tool «0 Prozent» oder «0,25 Prozent» eingibt, spuckt der Mietzinsrechner einen irreführend zu tiefen Wert aus. «Eine solche Mieterschaft wird dann spätestens vor der Schlichtungsstelle darauf hingewiesen, dass die Kostenpauschale falsch sei», sagt Bättig: «Ausser Spesen nichts gewesen.»

Artikel aus der «Handelszeitung»

Dieser Artikel wurde erstmals im kostenpflichtigen Angebot von handelszeitung.ch veröffentlicht. Blick+-Nutzer haben exklusiv Zugriff im Rahmen ihres Abonnements. Weitere spannende Artikel findest du unter www.handelszeitung.ch.

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Rein theoretisch wäre die Berechnungsweise mithilfe einer Kostenpauschale nicht erlaubt. Dennoch verwenden viele Schiedsstellen und Experten – so auch der Mieterverband – dieses Hilfsmittel, weil es verbreitet und effizient ist. Bern hat beispielsweise eine Pauschale von 0,5 Prozent. Gewisse Kantone verwenden 0,25, die Westschweizer Kantone 0 Prozent. Für Häuser älter als dreissig Jahre wird gar ein Wert von 0,75 Prozent verwendet. Vor Gericht gelten dann aber die tatsächlichen Kosten.

Vermieterinnen haben versteckte Trümpfe

Und dann gibt es noch einen dritten Fall, der zu fehlerhaften Resultaten aus den Mietzinsrechnern führt: Er betrifft wertvermehrende Investitionen einer Mietwohnung, für die der Vermieter nie eine Erhöhung verlangt, zum Beispiel den Einbau einer Geschirrspülanlage. Ein Eingabefeld für diesen Fall sucht man beim MV-Rechner vergeblich.

«Nicht selten haben Vermieter kleine, wertvermehrende Investitionen in der Vergangenheit getätigt, aber den Mietzins nicht erhöht», sagt Bättig. Wenn die Mieterschaft jetzt – aus aktuellem Anlass – eine Erhöhung des Mietzinses anficht, könnte die Vermieterschaft diese Kosten geltend machen, weil sie es in der Vergangenheit nicht berücksichtigt hatte. Auch dann wäre eine Anfechtung der Mietzinserhöhung aus Mieterinnensicht möglicherweise überflüssig.

Der MV Schweiz macht denn auch einen Vorbehalt in den vielen Fussnoten des Mietrechners: dass bei wertvermehrenden Investitionen der Mietrechner keinen verlässlichen Wert ausspucke. Der Hauseigentümerverband Schweiz hält sich trotz allem mit einer harten Kritik zurück. «Es ist noch zu früh, um eine Bilanz über die Probleme der Mietzinsrechner zu ziehen.» Man warte bis Ende Juli ab, solange die Frist zur Anfechtung laufe.

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