Alzheimer-Patient Michael Thalmann (55) erhielt zuerst die Diagnose Burnout
«Ein Jobwechsel brach mir das Genick»

Alzheimer-Patient Michael Thalmann wurde durch Alzheimer aus dem Beruf gerissen. Er und seine Partnerin Nicole Hunziker erzählen, weshalb er lange auf eine Diagnose warten musste und wie sie nun damit umgehen.
Publiziert: 26.08.2023 um 01:10 Uhr
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Aktualisiert: 26.08.2023 um 09:12 Uhr
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Michael Thalmann wusste im Beruf plötzlich nicht mehr weiter. Zuerst wurde er mit einem Burnout diagnostiziert.
Foto: Thomas Meier
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Joschka SchaffnerRedaktor Politik

Michael Thalmann* (55) wechselte Ende 2020 die Abteilung in seiner Firma. Plötzlich lief nichts mehr. «Ich musste mir alles aufschreiben», sagt der gelernte Elektroniker. «Die Arbeit wurde immer stressiger für mich.»

Unterstützung suchte er vergebens. Vorgesetzte sagten ihm, er solle sich einfach mehr anstrengen. «Irgendwann merkte ich: Ich kann nicht mehr.» Die Diagnose war ein Burnout. Doch auch nach Monaten der Therapie und Antidepressiva wurden die Symptome nicht besser. Erst über ein Jahr später, im Mai 2022, erhielt Thalmann nach einer Abklärung traurige Gewissheit: Es ist Alzheimer. «Der Jobwechsel brach mir das Genick, weiss Thalmann heute.»

Auf Notizen angewiesen

An einem Mittwochvormittag im August trifft er sich mit Blick: Thalmann sitzt zusammen mit seiner Partnerin Nicole Hunziker* (51) in einem Restaurant nahe dem Bahnhof einer Kleinstadt im Schweizer Mittelland. Hierhin zog der Berner vor beinahe 30 Jahren der Arbeit wegen. Bis heute hat er seinen markanten Dialekt nicht verloren.

Während Thalmann erzählt, liegt vor ihm aufgeschlagen ein grosser Schreibblock in einem Lederetui. Er ist auf seine Notizen angewiesen – insbesondere, wenn es um die Chronologie der Ereignisse geht. «Meine Schrift wird zwar auch für mich immer schwieriger zu entziffern», sagt er mit einer grossen Portion Schalk.

Rund 150’000 Menschen leben in der Schweiz mit einer Demenz. 32’000 erhalten jedes Jahr eine Diagnose. Für jung Erkrankte ist es oftmals ein weiter Weg dahin. «Wenn jemand mit Anfang oder Mitte 50 zum Arzt geht, dann wird dies oftmals gar nicht in Betracht gezogen», sagt Stefanie Becker (56), Direktorin der Organisation Alzheimer Schweiz. «Bei Männern kommt schnell die Diagnose Burnout, bei Frauen vermuten Ärzte hinter den Symptomen häufig zunächst die Menopause.»

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«Als Jugendlicher habe ich viel Blödsinn gemacht.»
Michael Thalmann
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Vor allem Hausärztinnen und Hausärzte glaubten weiterhin, dass Demenzerkrankungen eng mit hohem Alter verknüpft seien, sagt Becker. «Natürlich ist ein hohes Alter weiterhin der Risikofaktor Nummer eins.» Fälle wie den von Thalmann legen jedoch bei vielen Medizinern eine Wissenslücke offen.

«Als Jugendlicher habe ich viel Blödsinn gemacht», sagt Thalmann. «Zum Beispiel bin ich einmal kopfüber in eine Baugrube gefallen.» Vielleicht sei die Demenz also nur eine Frage der Zeit gewesen. Im Selbstmitleid scheint Thalmann jetzt aber nicht zu suhlen. Die Diagnose habe ihm und seinem Umfeld auch eine gewisse Erleichterung gegeben.

Nach dem Diagnosegespräch reisten Thalmann und Hunziker direkt nach Frankreich – in ihr Ferienhaus. «Wir fuhren quasi dem Problem davon», sagt Hunziker. Dennoch redeten sie in den Ferien und auch nach der Rückkehr lange und intensiv miteinander. Über die Zukunft. Was die Krankheit für ihr Zusammenleben bedeutet. Wie sie sich organisieren müssten. «Da wechselten sich die Erleichterung über die Diagnose und die Angst vor dem, was kommen wird, teilweise schon fast stündlich ab», erzählt Hunziker.

Selbsthilfegruppen für Patienten und Angehörige

Mittlerweile besucht das Paar Selbsthilfegruppen. Hunziker eine für Angehörige, Thalmann eine für jung Erkrankte. «Für mich war es deutlich einfacher, Unterstützung zu finden, als für Michael», sagt Hunziker. «Wir mussten dafür eine neue Gruppe starten», erzählt Thalmann. «Am Anfang waren wir zu dritt – mittlerweile zu viert.»

Bloss fünf Prozent der Erkrankten sind unter 65 Jahren alt. «Es gibt in der Schweiz zu wenig spezialisierte Angebote, vor allem für diese Altersgruppe», sagt Stefanie Becker. Zudem reichten bereits jetzt die Kapazitäten der Fachkliniken für die hohe Anzahl Neuerkrankungen pro Jahr nicht aus. «Leider hören wir immer wieder, dass Betroffene nach der Diagnose ohne weiterführende Informationen nach Hause geschickt werden.»

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«Oftmals ist Geschirr und Besteck nicht mehr am richtigen Ort.»
Nicole Hunziker
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Bei Thalmanns Diagnose war es glücklicherweise nicht so: «Uns sagte das Klinikpersonal direkt, an wen wir uns in unserem Kanton wenden können.» Dennoch läuft vieles über das Umfeld.

Kennengelernt hatten sich Thalmann und Hunziker vor mehr als einem Vierteljahrhundert. Sie beide waren in der Feuerwehr. Noch heute kleben in Thalmanns Notizbuch zahlreiche Andenken an seine Zeit im Korps. «Enge Freunde aus dieser Zeit helfen uns natürlich gerne», sagt Hunziker.

Sowohl Ehrenamt als auch Beruf übt Thalmann nicht mehr aus. Dennoch achtet Thalmann auf eine Tagesstruktur. «Ich stehe zusammen mit Nicole auf», sagt er. Dann ginge es vor allem darum, seine Partnerin zu entlasten. Etwa durch das Aufräumen der Küche. Hunziker schmunzelt. «Oftmals ist das Geschirr und Besteck dann zwar nicht mehr am richtigen Ort», sagt sie.

«Früher wurde ich als ‹verdammter Perfektionist› verschrien», erzählt er. Heute müsse er auch bei seinem Hobby, dem Schreinern, zwei- oder dreimal öfters nachmessen, bis es stimmt. «Wir achten alle darauf, ihm da keinen Druck zu machen», sagt Hunziker. «Notfalls gibt es halt einen Umweg.»

*Namen geändert

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