Kein Gremium polarisierte in der Corona-Krise mehr als die wissenschaftliche Taskforce des Bundes. In der Hochphase wollten SVP-Politiker ihr den Mund verbieten oder sie gleich abschaffen. Doch nun ist es ruhig geworden um das Gremium. Neue Analysen werden kaum mehr aufgeschaltet, die wöchentlichen Lageberichte werden immer knapper, Präsident Martin Ackermann (50) hat bereits seinen Abgang angekündigt. Zeit für eine Bilanz – fünf Tops und Flops einer typisch schweizerischen Institution.
Tops
Zweite Welle korrekt vorausgesagt
Als das Virus im Frühling 2020 den Rückzug antrat und im Sommer Ferien machte, blieb die Taskforce wachsam und warnte vor einer zweiten Welle, wenn bei den Öffnungen ein allzu forsches Tempo angeschlagen wird. Leider behielt sie recht. Anfang Oktober schoss die Zahl der Infektionen und mit etwas Verzögerung jene der Spitaleinlieferungen und Todesfälle durch die Decke.
Die Trendwende brachte erst der zweite Lockdown. Hätten Politik und Öffentlichkeit auf die Wissenschafter gehört, hätten viele Menschenleben gerettet werden können – und die Schweiz stünde heute als Corona-Musterland da.
Wie ein grosser Bundesrat
Eine vierköpfige Führung, ein Beirat mit fünf Personen, 70 Forscherinnen und Forscher in zehn Fachgruppen: Die Taskforce ist nicht die Show von Einzelmasken, sondern ein breit abgestütztes Gremium, das neben Ärztinnen und Virologen auch Ökonominnen und Ethiker umfasst.
Die Konstruktion ist genial: Anders als in Deutschland, wo Virenjäger ohne gesellschaftliche Perspektive die Debatte dominierten, suchte die Schweizer Taskforce den Ausgleich zwischen gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen. Sie funktionierte wie ein grosser Bundesrat. Das Kollegialitätsprinzip war ein wirksamer Schutz vor einseitigen Stellungnahmen.
Fakten, Fakten, Fakten
Die Taskforce lieferte, was in der Zeit der Unsicherheit besonders wertvoll war: Zahlen, Fakten und Studien. Wöchentlich erschien ihre epidemiologische Lagebeurteilung, hinzu kamen 86 Analysen, die sämtliche Aspekte der Pandemie abdeckten und Politik und Verwaltung Entscheidungsgrundlagen lieferten.
Sogar der Umgang mit Corona-Leugnern war Thema eines Papiers. Die Taskforce plädierte für einen entspannten Umgang mit ihren Kritikern – auch extreme Positionen gehörten zu einer Demokratie.
Fronarbeit
Zu dieser geballten Ladung an Wissen kam die Schweiz gratis und franko: Sämtliche Taskforce-Mitglieder arbeiten unentgeltlich. Da die Wissenschaftler allesamt an Universitäten oder Hochschulen angestellt sind, mussten sie trotzdem nicht am Hungertuch nagen.
Ihr Engagement ist gleichwohl Ausdruck von Bürgersinn: Sie stellten ihre persönlichen Ambitionen für den Dienst an der Allgemeinheit zurück. Einige konnten sich profilieren, oft bestand der Lohn aber in Nichtbeachtung oder gar persönlichen Angriffen.
Antihysterisch
Obwohl Politiker die Abschaffung der Taskforce forderten und ihre Ratschläge ignorierten, blieb Präsident Martin Ackermann immer der nüchterne Wissenschaftler. Nie griff er zu emotionalen Appellen oder Schuldzuweisungen. Stets respektierte er, dass die Wissenschaft berät und die Politik entscheidet.
Der Scharfmacher-Fraktion der Taskforce passte das nicht – was sich in den Abgängen von Christian Althaus (42) und Dominique de Quervain (52) niederschlug. Letztlich stellte sich der zurückhaltende Stil aber als richtig heraus. Denn auch Wissenschafter sind nicht vor Irrtümern gefeit.
Flops
Dritte Welle überschätzt
Dass die Taskforce in der öffentlichen Wahrnehmung heute wenig Kredit geniesst, hat viel mit ihrer Performance im letzten Drittel der Pandemie zu tun. Bei der dritten Welle haute sie daneben. In einem Papier vom 20. April sagte sie voraus, dass die damals vom Bundesrat geplanten Lockerungen zu etwa 10'000 Neuinfektionen pro Tag führen würden.
Gemäss ihrer Prognose wäre die dritte Welle an Wucht und Tödlichkeit mit der zweiten vergleichbar gewesen. Es kam zum Glück anders. Obwohl seit dem Ausbruch der Pandemie mehr als ein Jahr verstrichen war, hatten die Wissenschaftler bis im Frühling 2021 kein verlässliches Verlaufsmodell.
Geldmaschine Lockdown
Mit Aymo Brunetti (58), Jan-Egbert Sturm (51) oder Beatrice Weder di Mauro (55) gehören der Taskforce einige der renommiertesten Ökonomen des Landes an. Dennoch war sie nicht vor fragwürdigen Einschätzungen gefeit: In einem Papier vom 19. Januar kam das Gremium zum Schluss, dass ein vierwöchiger Lockdown einen Nettonutzen zwischen 2 und 3,8 Milliarden Franken generieren würde. Dahinter standen nicht etwa vermiedene Wertschöpfungsverluste durch gewonnene Lebensjahre. Vielmehr wurde der Nutzen aus Umfragen ermittelt, was Menschen generell zu zahlen bereit sind, um potenziell tödliche Risiken zu senken.
Der Ansatz ist auch sonst in der Verwaltung gebräuchlich, hier zeigte sich seine Absurdität: Reale Kosten durch den Lockdown werden gegen fiktive Nutzen aufgerechnet. So werden Lockdowns zwangsläufig zu einem Bombengeschäft. Wohlgemerkt: Massive Einschränkungen waren Ende Januar das richtige Mittel, um die zweite Welle zu brechen und Leben zu retten. Sie ökonomisch schönzurechnen, wäre nicht nötig gewesen.
Kostenfaktor Lockerungen
In der dritten Welle war die Ökonomenfraktion der Taskforce um ähnlich abenteuerliche Zahlenakrobatik besorgt. Eine Verschiebung der Terrassenöffnungen um einen Monat würde netto mit einem Plus von 1,7 Milliarden Franken zu Buche schlagen, bilanzierte sie am 20. April vor.
Heute weiss man: Die Lockerungen von damals waren epidemiologisch vertretbar und schützten Wirtschaft und Gesellschaft vor weiterem Schaden.
Krankenkassen sollen Löhne zahlen
Schon früh betonte die Taskforce die Bedeutung der TRIQ-Strategie, also von Testen, Rückverfolgung, Isolieren und Quarantäne. Leider folgten die Kantone den Ratschlägen nicht, was dazu führte, dass die Kontaktverfolgung in der zweiten Welle kollabierte und niemand mehr wusste, wie sich das Virus ausbreitete.
Bisweilen schoss die Taskforce aber übers Ziel hinaus: Am 10. November forderte eine Gruppe um Marcel Salathé (46) den Aufbau einer «Testorganisation im industriellen Massstab». Originell war vor allem der Finanzierungsvorschlag: Für die Lohnausfälle durch Quarantäne sollten die Krankenkassen aufkommen. Es wäre das Rezept für eine Prämienexplosion im beispiellosen Massstab gewesen.
Innovator und Irrläufer
Überhaupt Salathé. Der EPFL-Professor entwickelte in Rekordtempo eine datenschützerisch einwandfreie Tracing-App, die auch international auf Beachtung stiess. Er stellte sich auch gleich als Werbefigur für seine Erfindung zur Verfügung. In der Pandemiebekämpfung spielte die App letztlich aber nur eine marginale Rolle.
Salathé kritisierte des Öfteren die Verwaltung, wenn sie nicht auf seine Vorschläge einstieg, fiel aber selbst durch Fehleinschätzungen auf: «Es sieht gerade wirklich, wirklich gut aus», gab er Ende September zu Protokoll. Kurz darauf überflutete die zweite Welle die Schweiz. Ende Februar verliess er die Taskforce.