Auf einen Blick
Herr Rohrer, gibt es den Haueter Sport in Münsingen noch?
Fabien Rohrer: Nein, der Laden hat leider schon vor Jahren dichtgemacht.
Hätte es ohne dieses Geschäft den Snowboarder Fabien Rohrer überhaupt jemals gegeben?
Der Haueter Sport war zumindest rückblickend betrachtet der Startschuss zu meiner Karriere. Ich war damals etwa zehn Jahre alt, als ich zusammen mit meiner Mutter im Laden war und dort auf einem Fernseher ab einer VHS-Kassette ein Burton-Snowboard-Film lief. Ich war völlig fasziniert davon und sagte ihr: «Das ist das, was ich will.» Dadurch wurde aus dem Skifahrer Rohrer, der ich zuvor noch gewesen war, der Snowboarder Rohrer.
Was waren Sie damals für ein Kind?
Ich hatte alles in allem eine coole Kindheit, auch wenn es zu Hause gelegentlich etwas schwierig war. Deshalb wuchs ich zum Teil bei meinem Grossvater auf.
Und was für ein Schüler waren Sie?
Ich war nie motiviert, ein guter Schüler zu sein, und verstand nicht, warum ich das alles lernen musste. Ich schaute deshalb während den Schulstunden oft raus und wollte die Welt entdecken. Ich war wie ein Fisch, der aus dem Aquarium ausbrechen wollte.
Haben Sie auch deshalb aus Langeweile mal im Schulzimmer Tränengas versprüht?
Das war alles halb so wild und ungefährlich. Dass die danach gleich zwei Stockwerke evakuiert haben, war total übertrieben. Ähnlich war es später auch mal in Leysin. Da nahm ich den Feuerlöscher und verursachte in der Lobby einen «Schneesturm».
Warum?
Weil ich das in dem Moment gefühlt habe. Ich bin grundsätzlich ein todlieber «Siech», aber manchmal habe ich halt gewisse Anfälle, manchmal muss einfach etwas raus.
Der 49-Jährige zählt zu den Schweizer Snowboard-Pionieren. Er wurde dreimal Welt- und einmal Europameister und sprang in der Halfpipe an den Olympischen Spielen 1998 in Nagano auf Platz 4. 2001 beendete er seine Karriere. Rohrer lebt in Spiez, ist alleinerziehender Vater von Sohn Jeremy (13) und arbeitet heute in der Immobilienbranche.
Der 49-Jährige zählt zu den Schweizer Snowboard-Pionieren. Er wurde dreimal Welt- und einmal Europameister und sprang in der Halfpipe an den Olympischen Spielen 1998 in Nagano auf Platz 4. 2001 beendete er seine Karriere. Rohrer lebt in Spiez, ist alleinerziehender Vater von Sohn Jeremy (13) und arbeitet heute in der Immobilienbranche.
Irgendwann schmissen Sie einfach die Schule, um Snowboard-Profi zu werden. War das auch ein solcher «Anfall»?
Ich ging zum Schuldirektor und sagte ihm, dass ich mich verabschieden werde und ich Profi werden wolle. Ich lag damals etwa auf Platz 1200 der Weltrangliste. Deshalb verstand das der Direktor auch nicht. Danach lief ich einfach raus aus der Schule und dachte mir: Jetzt habe ich die Geleise umgestellt, jetzt gibt es kein Zurück mehr.
Haben Sie diese Entscheidung je bereut?
Nein, das war die beste Entscheidung meines Lebens. Ab diesem Moment war ich endlich frei und konnte das machen, was ich am liebsten tat: snowboarden.
Richtig frei waren Sie später aber trotzdem nicht immer. Damals gab es zwei Snowboard-Verbände: die coole ISF und die spiessige FIS. Wer nach Olympia wollte, musste bei der FIS sein.
Die Szene sah damals folgendermassen aus: In den USA konntest du coole Snowboardfilme drehen und dem Lifestyle frönen. Das wollte ich auch, doch in Europa war das kaum möglich. Hier musstest du Wettkämpfe bestreiten, und nur wenn du Erfolg hattest und Weltmeister wurdest, konntest du auch Filme drehen. Deshalb wurde ich Profi und bestritt Wettkämpfe, obwohl ich das eigentlich gar nie wollte. Mir ging es in erster Linie immer ums Lebensgefühl.
1998 nahmen Sie dann in der Halfpipe trotzdem an Olympia teil. Warum?
Du kannst dir über die FIS und Olympia nur eine Meinung bilden, wenn du selbst dabei warst.
Wie wars denn nun bei Olympia?
Das war der schlimmste Event, an dem ich je teilgenommen habe.
Sagen Sie das jetzt, weil Sie als grosser Favorit nur Vierter wurden?
Nein, ich kann mit diesem Rang gut leben, auch wenn ich damals so richtig verarscht wurde. Im Vorfeld von Nagano habe ich oft gegen die FIS und das IOC geschossen. Deshalb konnten die mich gar nicht gewinnen lassen. Was wäre dann bloss los gewesen? Ich fuhr damals zweimal beinahe den gleichen Run, trotzdem wurden die komplett anders gewertet. Das sagt doch eigentlich alles aus.
Das 332-seitige Hardcover-Buch «Wir waren Helden» ist ab sofort im Fachhandel erhältlich. Darin enthalten sind 30 Interviews mit Schweizer Sport-Legenden – von Jörg Abderhalden bis Beat Breu, von Denise Biellmann bis Ariella Kaeslin. Das Buch kostet 39 Franken, ISBN-Nummer 978-3-03875-567-8. Zu bestellen unter beobachter.ch/shop oder noch einfacher direkt via QR-Code.
Das 332-seitige Hardcover-Buch «Wir waren Helden» ist ab sofort im Fachhandel erhältlich. Darin enthalten sind 30 Interviews mit Schweizer Sport-Legenden – von Jörg Abderhalden bis Beat Breu, von Denise Biellmann bis Ariella Kaeslin. Das Buch kostet 39 Franken, ISBN-Nummer 978-3-03875-567-8. Zu bestellen unter beobachter.ch/shop oder noch einfacher direkt via QR-Code.
Heute ist der Snowboardsport sehr professionell aufgestellt. Wie sah das damals aus?
Anders. Als ich bereits Erster der Weltrangliste war und von allen gejagt wurde, merkte ich, dass mein Training professioneller und strukturierter werden muss. Deshalb stellte ich ein Trainer-Team zusammen. Aber nicht in der Schweiz, sondern in Finnland, weil die Skandinavier bekannt sind für ihre mentale Stärke und ihren Biss. Ich habe dann jeweils während der Saisonvorbereitung wochenlang in Lappland trainiert, was damals völlig innovativ war. Danach haben all die anderen Nationen nachgezogen und auch Trainer verpflichtet.
2001 beendeten Sie nach drei WM- und einem EM-Titel Ihre Karriere. Danach folgte der tiefe Fall. Warum?
Um das zu verstehen, muss man schauen, woher ich kam. Als Star wollten alle etwas von einem. Ich verdiente gutes Geld, und wenn du Erfolg hast, kommen Trittbrettfahrer, die dich aussaugen. Ich war damals ein Stück weit abgehoben, hatte eine verzerrte Wahrnehmung und fand mich ziemlich geil. Wenn du so rumläufst, zieht das auch die Frauen an. Plötzlich hatte ich, der 1,6 Meter kleine Fäbu mit seinen blondierten Haaren, die schönsten Frauen an meiner Seite. Könnte das daran gelegen haben, dass ich berühmt war? Hinzu kommt noch etwas völlig anderes.
Was?
Ich lebte während rund zehn Jahren nur in Hotels. Die dreckige Wäsche gab ich an der Rezeption ab, ich ass immer in den Hotels, und meine Tage waren völlig durchgetaktet. Vom normalen Leben hatte ich keinen blassen Schimmer. Ich dachte, ich sei unsterblich, und hatte keine Ahnung davon, was nach einem Karriereende auf mich zukommt. Doch dann war es plötzlich so weit. Es trifft einem schon hart, wenn du ein Zahnrädchen bist, das angerostet ist, und dann wirst du einfach durch ein anderes ersetzt, und du bist komplett weg.
Haben Sie sich in der Zeit einfach verloren?
Ja, total. Erfolg, Ruhm, Geld – alles kam viel zu schnell, das ist toxisch. Ich wusste nicht mehr, was der Sinn des Lebens ist, und hatte keine Selbstliebe mehr. So war es wohl auch bei Leuten wie Amy Winehouse, Whitney Houston oder Kurt Cobain. Ich sass nach meinem Rücktritt damals mit 25 einfach zu Hause rum, wachte aus meinem Dornröschenschlaf auf und merkte, dass ich nichts mehr auf die Reihe kriege.
Wie tief sind Sie damals gefallen?
Leider sehr tief. Irgendwann merkst du, dass du nicht mehr im Leben stehst. Du siehst deine ehemaligen Schulkollegen, die mittlerweile alle ein Haus, einen Job und Kinder haben. Und du? Du hast zwar für die Schweiz gekämpft, viel für den Snowboardsport gemacht, und Adolf Ogi hat dir auf die Schultern geklopft. Ich habe diesen Sport in der Schweiz salonfähig gemacht und mit meiner Art viele Leute inspiriert. Doch dann ist die Karriere vorbei, niemand interessiert sich mehr für dich, du hast kaum noch Einnahmen, und dann flattern all die Rechnungen ins Haus, die ich einfach ungeöffnet liegen liess.
Warum zogen Sie nicht rechtzeitig die Reissleine?
Das alles kommt schleichend. Hinter dir baut sich eine riesengrosse Welle auf, die du nicht siehst, und plötzlich bricht sie über dich herein, und du bist völlig erstaunt und schaust tatenlos zu, wie du untergehst. Während fast zwei Jahren verliess ich deshalb kaum noch meine Wohnung.
Sie haben das Finanzielle vorhin angesprochen. Sie hatten ja gut verdient. Wo ging all das Geld hin?
Sagen wir es mal so: Meine Finanzplanung war sicherlich nicht die beste. Ich hatte damals halt keinen Plan, einfach Rock 'n' Roll und gewinnen. Und dann kam da plötzlich diese Steuerrechnung über 80’000 Franken, zahlbar innert zehn Tagen.
Eine typische Abwärtsspirale.
Ja, hinzu kam, dass ich in der Zeit zu viel Alkohol trank und Panikattacken hatte. Irgendwann kam der Betreibungsweibel zu mir und nahm fast alles mit. Auto weg, Konto geschlossen. Ich hatte nur noch einen Teller und eine Gabel. Und 120’000 Franken Schulden, die ich später aber bis auf den letzten Rappen zurückgezahlt habe.
Weitere Gespräche mit Sport-Legenden
Sie haben vorhin Winehouse, Houston und Co. angesprochen. Die leben heute alle nicht mehr. Dachten Sie auch an Selbstmord?
Nicht direkt, aber sich sah einfach keinen Sinn mehr im Leben. Es hätte durchaus passieren können, dass ich das alles nicht überlebt hätte. In jener Zeit habe ich mich selbst als Opfer und Verlierer abgestempelt. Ich bin im Selbstmitleid zerflossen.
Später bekamen Sie auch noch Probleme mit der Polizei und landeten im Knast.
Auf die Details, wie es dazu kam, möchte ich nicht mehr eingehen, aber ja, das war heftig, und ich realisierte, dass man immer noch tiefer fallen kann. Nach einigen Tagen Knast durfte ich dann in der psychiatrischen Klinik in Münsingen arbeiten, Gemüse rüsten und abwaschen. Es war damals einfach wie ein Dominospiel. Ein Stein stürzte um, und danach immer noch einer und noch einer und noch einer.
Wie fanden Sie aus diesem Loch wieder raus?
Irgendwann sass ich in Münsingen im Chlösterli-Pub und sah dort all die Büezer. Da sagte ich mir: Entweder ich sterbe jetzt oder ich kämpfe. Da fragte ich die Büezer, ob ich bei ihnen auf dem Bau arbeiten dürfe. So wurde aus einem Rockstar ein Hilfsarbeiter, der zwei Jahre lang vor allem Betonsäcke rumgetragen hat. Positiver Nebeneffekt: Durch die harte körperliche Arbeit wurde ich richtig fit. Zudem beschloss ich, keinen Schluck Alkohol mehr zu trinken, was ich bis heute durchgezogen habe. Damals drückte der Spitzensportler in mir durch, der handelt und der nichts mehr als Mittelmässigkeit hasst.
Nahmen Sie Hilfe von aussen an?
In jener Zeit stand ich einmal nackt vor den Spiegel und schaute mich an. Ich dachte damals, ich sei der Hinterletzte. Ich sagte zu mir: «Fäbu, jetzt liegt es an mir. Ich muss Lösungen finden, damit es mir wieder besser geht.» Danach ging ich zu einem Meditationscoach und erzählte ihm, was alles in den Brüchen liegt. Er sagte mir nur: «Du nimmst dich zu wichtig. Was dir passiert ist, passiert anderen auch. Willst du dich ändern? Wenn ja, dann hör auf mit dem Selbstmitleid und befasse dich ernsthaft mit dir.» Da hat es bei mir Klick gemacht.
Sie sprechen hier sehr intim über Ihren tiefen Fall. Warum?
Weil es vielen Sportlern nach der Karriere ähnlich ging. Ich kenne viele solcher Sportler, die aber nicht den Mut haben, darüber zu reden. Wenn ich mit meinen Aussagen nur einem Menschen helfen kann, dann hat es sich schon gelohnt.
Wie stolz sind Sie, dass Sie aus dem Loch wieder herausgefunden haben?
Sehr. Ich bin auch rückblickend dankbar dafür, dass ich «uf d Schnurre» gefallen bin, weil ich so viel über mich gelernt habe. Vom Rockstar-Arschloch zum «richtig guete Siech», das ist doch eine tolle Geschichte. Aber noch etwas.
Was?
Wir erfolgreichen Sportler dürfen uns auch nicht überschätzen. Hey, ich bin auch nur ein Mensch und nicht besser als all die anderen, nur weil ich besser snowboarden konnte als viele andere.
Wie geht es Ihnen heute?
Früher wusste ich oft nur, was ich nicht wollte. Heute weiss ich auch, was ich will. Das ist ein grosser Unterschied. Mittlerweile fragen mich sogar Firmen an, ob ich Vorträge über das Thema Glück und Erfolg halten wolle. Bei mir ist es heute wie früher beim Snowboarden, ich halte die Balance und gehe ziemlich zufrieden durchs Leben. Ich schaue mich jeden Tag kritisch an und entwickle mich weiter, mit einem Hauch von Demut.
Was machen Sie heute beruflich?
Ich bin in der Immobilienbranche tätig und alleinerziehender Vater von Jeremy, der mittlerweile 13 ist.
Sind Sie ein Immobilienhai?
Nein, ich kreiere für Leute Wohnraum zu humanen Preisen. Ich schaue, dass die Leute ein schönes Zuhause haben. Das ist meine Mission, an der ich seit Jahren hart arbeite. Mit Kapitalismus hat das nichts zu tun. Doch das Wichtigste ist, dass ich Zeit mit Jeremy verbringe. Hinzu kommen unzählige Hobbys wie Tontaubenschiessen, Golfen, Klettern, Skateboarden, Snowboarden und so weiter. Ich habe so viele Leidenschaften, dass mir manchmal fast die Zeit zum Arbeiten fehlt.
Sind Sie noch am Snowboarden?
Ja, ich stehe pro Woche meist viermal auf dem Board. Das Interessante dabei: Je älter ich werde, desto gefragter bin ich wieder. Es gibt eben weltweit nicht viele fast 50-Jährige, die das Level so halten konnten. Das macht mich auch für Sponsoren interessant. Eben kann ich von einem Katalog-Shooting aus Lappland zurück. Und im neuen Jahr werde ich in Japan und Amerika an Veteranen-Events teilnehmen.
Haben Sie keine gesundheitlichen Probleme davongetragen?
Ich habe zwar in beiden Knien zwölf Schrauben und kann mein Handgelenk nicht mehr biegen, aber ich bin fit wie ein Turnschuh.
Wie schaffen Sie das?
Durch extreme Disziplin. Ich stehe jeden Morgen um 6 Uhr auf. Erst meditiere ich, dann mache ich meine Stretching-Übungen und später im Garten eine Trampolin-Einheit. Ausserdem ernähre ich mich sehr gesund und trinke jeden Tag frisch gepressten Gemüsesaft. Sie sehen: Ich lebe wie ein Spitzensportler. Das fällt mir heute auch leicht, weil ich das nicht mehr machen muss, sondern weil ich das machen will.
Sie haben vorhin Ihren Sohn Jeremy angesprochen. Tritt er in Ihre Fussstapfen?
Er liebt das Snowboarden, will aber keine Wettbewerbe bestreiten, sondern auf dem Brett kreativ tätig sein. Damit verkörpert er wieder den guten alten Lifestyle, als die Snowboarder noch mehr als nur ehrgeizige Athleten waren. So wie der Sport eben einmal war, bis er – auch wegen der FIS – falsch abgebogen ist. Erst kürzlich schloss Jeremy mit Haribo einen Werbevertrag ab. Wie er sich entwickelt und selber Sachen anreisst, freut mich für ihn. Genauso die Tatsache, dass wir zurzeit beide dem gleichen internationalen Nitro-Snowboard-Team angehören. Dadurch können wir gemeinsam Reisen machen. Das alles mit meinem Sohn zu erleben, macht unglaublich viel Spass.