Auf einen Blick
Die Schweizer Skispringer stehen seit Saisonbeginn unter besonderer Beobachtung. Der Grund dafür sind ihre vermeintlichen «Wunder-Anzüge». Auch dank ihnen segelte Gregor Deschwanden (33) zuletzt viermal aufs Podest und gehört an der Weltmeisterschaft zu den Medaillenkandidaten. Dass die Skispringer in diesem Bereich endlich konkurrenzfähig sind, ist der Verdienst eines Holländers.
Blick trifft Robin van Baarle (51) in seinem Wind- und Wassersportladen in Einsiedeln. Etwas stellt er sogleich klar: «Von Skispringen habe ich keine Ahnung.» Und genau das sei sein grosser Vorteil. «Meine Ideen sind unkonventionell. Ich wurde schon als verrückt erklärt.» Seit zwei Jahren tüftelt der Holländer an den Schweizer Anzügen herum. Das Jobangebot von Swiss-Ski überraschte ihn. «Ein Holländer im Skispringen? Die Spinnen doch!», dachte er.
Vom Briefträger zum Skispringen
Nach anfänglicher Skepsis entdeckte van Baarle, dass sich sein Wissen auf das Skispringen übertragen liess. Schon als Segelmacher hatte er sich damit beschäftigt, wie ein Stoff im Zusammenspiel mit der Luft am besten funktioniert.
Ursprünglich kommt van Baarle vom Windsurfen, wo er 1990 Junioren-Weltmeister wurde. Im Jahr 2011 zog er wegen seiner damaligen Frau in die Schweiz. Hierzulande arbeitete er unter anderem als Briefträger. Bis er vor sechs Jahren den Sportladen in Einsiedeln eröffnete.
Ein schockierender Anblick
Zu Beginn seines Skisprung-Abenteuers bewahrte ihn Google vor einem peinlichen Moment. «Ich wusste nicht, wie Simon Ammann aussieht», gesteht er. Um den vierfachen Olympiasieger bei der ersten Begegnung zu erkennen, prägte er sich dessen Gesicht dank eines Internetbilds ein.
Als deutlich komplizierter entpuppte sich die Suche nach Spielraum im Anzugsreglement. Es umfasst mehr als 30 Seiten. «Als ich es zum ersten Mal gesehen habe, wollte ich sofort aufhören. Ich dachte, da habe ich überhaupt keine Freiheiten.» Inzwischen kennt es van Baarle auswendig und weiss, dass er sich getäuscht hat.
Früher war alles Chefsache
Was den Schweizer Anzug in diesem Jahr so gut macht, behält der Holländer für sich. «Coca-Cola verrät sein Erfolgsrezept auch nicht», erklärt er lachend. Wer sich in seinem Laden umsieht, kann erahnen, was ihn auszeichnet. Elf verschiedene Nähmaschinen stehen dort. «Ich achte auf jedes Detail.» Entscheidend sei für ihn das Feedback der Athleten.
Diese professionelle Zusammenarbeit zwischen Anzugsmacher und Skispringer existiert erst seit zwei Jahren. Zuvor musste der ehemalige Cheftrainer Ronny Hornschuh nach dem Videostudium und der Teambesprechung abends zu Schere und Nadel greifen.
Nun begleitet van Baarle das Team mit zwei Nähmaschinen und Testgeräten, um Disqualifikationen zu verhindern. Sein Einfluss an den Weltcup-Wochenenden wurde auf diese Saison hin jedoch eingeschränkt. Schuld daran ist eine neue Regel.
Falsches Regel-Versprechen
Jeder Athlet darf pro Saison nur noch zehn Anzüge benutzen. Diese werden von den Kontrolleuren mit Mikrochips und einem Schriftzeichen versehen. Spontane Anpassungen am Wettkampf-Ort sind nicht mehr möglich. «Es ist viel fairer als früher», zeigt sich van Baarle zufrieden.
Gleichzeitig räumt er mit einer Finanz-Lüge auf. Von der neuen Regel versprachen sich die Verantwortlichen weniger Ausgaben. Das würde das Budget kleiner Nationen wie der Schweiz entlasten. «Eine Fehleinschätzung. Unsere Materialkosten sind genauso hoch wie letztes Jahr.» Statt im Wettkampf werden die Anzüge nun vermehrt ausserhalb getestet.
Ein weiter Sprung im Schlafsack?
Wie sensibel das Anzugsthema ist, zeigt sich allein schon daran, dass selbst die Farbe einen Einfluss auf das Flugverhalten hat. «Jede hat unterschiedliche Eigenschaften», erklärt van Baarle. Vor allem aber ist es ein psychologischer Effekt. Deschwanden springt stets mit einem orangefarbenen Modell. «Als er mit einer identischen blauen Version über die Schanze flog, fühlte er sich nicht wohl.»
Mehrere exakt gleiche Anzüge können die Schweizer erst seit letztem Jahr herstellen – dank einer computergesteuerten Schnittmaschine. «Früher musste ich alles mit der Schere machen. Da ist die Fehlerquote relativ hoch.» Trotz vieler Fortschritte bleibt van Baarle bescheiden. Statt sich zu loben, witzelt er: «Deschwanden ist im Moment so gut, der würde auch im Schlafsack weit springen.»