Was ist Ihnen geblieben von der Weltmeisterschaft der Fussballerinnen in Australien und Neuseeland? Wissen Sie noch, welche Teams in den Viertelfinals dabei waren? Wissen Sie noch, wer Torschützenkönigin wurde und wer zur besten Spielerin des Turniers gewählt wurde?
Was Sie sicher wissen: Es gab einen Kuss. Wie ein Torero packt der spanische Verbandspräsident Luis Rubiales den Kopf der Spielerin Jennifer Hermoso und drückt ihr einen Kuss auf den Mund.
Es gibt verschiedene Arten von Küssen. Dieser war der Todeskuss von Rubiales. Und fortan ist diese sportlich so hochstehende WM kein Thema mehr. Es wird nicht mehr über die bemerkenswerten Fortschritte des Frauenfussballs berichtet, nicht mehr darüber, dass diese WM ein Quantensprung war.
Fortan ist die Jagd auf Rubiales das Thema. Sein Kopf wird gefordert und geliefert. Der Kuss wird auch die Gerichte beschäftigen. Der WM-Titel der so grossartig aufspielenden Spanierinnen ist zur Randnotiz verkommen.
Ist Rubiales tatsächlich dieser hemmungslose, übergriffige und ruchlose Macho? Ein Schweinepriester und Grüselbischof, wie es sie offenbar auch in der katholischen Kirche in jedem zweiten Beichtstuhl gibt? Es fällt schwer, den Mann zu verteidigen. Denn mit seinem obszönen Griff in den Schritt hat er schon während des WM-Finals angedeutet, wes Geistes Kind er ist.
Es gibt keine Leichtigkeit mehr
Er habe Hermoso geküsst wie seine Tochter, sagt er. Das Problem: Hermoso ist nicht seine Tochter. Verständnis für Rubiales gibt es keines. Trotzdem darf man die Frage stellen: Ist die verbissene Jagd auf diesen Mann verhältnismässig? Die Spanierinnen haben im Bus nach ihrem Triumph über die Szene gewitzelt. Schockiert hat da auch Hermoso nicht gewirkt.
Aber in diesen Zeiten, in denen alles so bedeutungsschwanger ist, gibt es keine Leichtigkeit und kein Verzeihen mehr. Und man wird den Eindruck nicht los, dass diesbezüglich auch Hermoso vielleicht nicht instrumentalisiert, aber nicht zuletzt auch durch den Druck der öffentlichen Meinung zu ihrer unversöhnlichen Haltung und am Ende auch zu einer Strafanzeige geschubst wurde.
Familienvater Rubiales ist rasiert, seiner beruflichen Zukunft beraubt, gesellschaftlich geächtet. Würde mit gleichen Ellen gemessen, da müssten in Zeiten, in denen die heilige Geistlichkeit den Griff in die Hose der Ministranten offenbar immer noch als Akt der christlichen Nächstenliebe betrachtet, sämtliche Kirchenpforten geschlossen werden.
Der grosse Verlierer ist bei diesem nicht enden wollenden Getöse auch der Frauenfussball. Die nächsten Schlagzeilen, die es diesbezüglich gibt, werden am Tag sein, an dem Rubiales vor den Schranken des Gerichts steht. Das hilft dem Sport wenig und wird dem aufstrebenden Frauenfussball nicht gerecht.
KISS ist eine amerikanische Rockband. KISS ist in den USA auch ein Prinzip der Problemlösung. Keep it simple and stupid. Gibt es ein Problem, soll eine möglichst einfache Lösung angestrebt werden. In Zeiten der Nulltoleranz ist das schwierig geworden.
Mund abwischen und vorwärtsschauen geht nicht mehr.