In den sozialen Medien hatte man Stan Wawrinka in den letzten Monaten vor allem schwitzen gesehen. Schwitzen tut der Champion von drei Grand-Slam-Turnieren auch am Freitagvormittag in Nyon. Unter den wachsamen Augen seines Coaches Magnus Norman hauen sich der Waadtländer und der in der Westschweiz wohnhafte Franzose Pierre-Hugues Herbert (ATP 71) die Bälle um die Ohren. Die Szenerie auf der eindrücklichen Anlage des TC Nyon in den Hügeln über dem Genfersee ist idyllisch, die Atmosphäre relaxt. Und doch ist klar: Hier macht sich einer bereit, um nochmals anzugreifen.
Wawrinkas Dreijahresplan
Auf das US Open und das zuvor ebenfalls in New York geplante Masters-1000-Turnier von Cincinnati verzichtet Wawrinka. Der Entscheid ist für ihn nicht erst in den letzten Tagen gefallen. «Er war relativ einfach», sagt Coach Norman gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. «Unter diesen Voraussetzungen wollte ich nicht nach Amerika reisen», erklärt Wawrinka. Diese Voraussetzungen, das ist natürlich das Coronavirus, die nach wie vor prekäre gesundheitliche Lage in den USA, die Verbannung der Spieler auf einen eng begrenzten Raum zwischen Tennisstadion und Flughafenhotel und nicht zuletzt die nach wie vor zahlreichen offenen Fragen. Mit diesen muss er sich nun nicht herumschlagen. Wawrinka war auch nicht bei der angeblichen Zoom-Videokonferenz dabei, bei der die Top-20-Spieler sich auf einen möglichen Boykott des US Open verständigt haben sollen, falls die Quarantäne-Regelungen nicht geklärt sind.
Mehr Tennis
«In meinem Alter kann ich sowieso nicht mehr alles spielen», meint Wawrinka mit einem Lächeln, als er sich unter einem Schatten spendenden Baum hingesetzt hat, um Auskunft zu geben. Er entschied sich schon vor einigen Wochen, sich auf die kurze, in den Herbst verschobene Sandplatz-Saison in Europa zu konzentrieren. Zu diesem Zweck wird er vom 17. bis 30. August zwei Challenger-Turniere in Prag spielen. Als Nummer 17 der Welt darf er das, als Top-10-Spieler hätte er es nicht gekonnt. Tennismüde ist der Doppel-Olympiasieger von 2008 mit Roger Federer aber noch überhaupt nicht. «Natürlich bin ich eher am Ende meiner Karriere, aber ich plane dennoch langfristig, mit einem Dreijahresplan.» Wawrinka gedenkt also auch 2022, mit dannzumal 37 Jahren, noch auf ATP-Stufe mitzumischen.
«Tennis fehlte mir nicht»
Er glaubt auch nicht, dass er als älterer Spieler wegen der Corona-Zwangspause eine Chance verpasst hat. «Ich habe drei Grand-Slam-Turniere gewonnen und muss nichts mehr beweisen», betont er. «Ein Junger fühlt sich vielleicht mehr unter Druck, unbedingt ein Resultat liefern zu müssen.» Er empfand den Unterbruch deshalb nicht als belastend, im Gegenteil. «Die ersten Monate nützte ich, um komplett vom Tennis runterzufahren. Ich hatte Gelegenheiten für anderes, konnte Zeit mit meiner Tochter verbringen.» Und: «Das Tennis fehlte mir nicht.» Kamen da sogar Gedanken auf, ganz mit dem Spitzensport aufzuhören? «Nicht einen Moment», versichert der 35-jährige Waadtländer. «Das Tennis fehlte mir nicht, weil es keine Wettkämpfe gab. Ich spiele noch wegen der Emotionen, dem Stress, der Freude, den Zuschauern.»
Diese werden auf absehbare Zeit ganz oder teilweise fehlen. Wawrinka kann und muss damit leben. «Tennis wird wahrscheinlich der Sport sein, der als letzter zur völligen Normalität zurückkehrt.» Immerhin kann er bald wieder in den Wettkampfmodus schalten. «Ich fühle mich gut, physisch, aber auch spielerisch», ist Wawrinka zuversichtlich. Auf Showkämpfe hatte er keine Lust. Ob sein Tennis auch wieder wettkampftauglich ist, wird er in Prag ein erstes Mal testen. Denn: «Heute habe ich fast zum ersten Mal seit langem wieder um Punkte gespielt», verrät er.